Täuschend echt.

Es ist der Geruch, der in der Luft liegt. Dieser Geruch, der durch jede Pore ihrer Haut bis in die letzten Winkel ihres Körpers sickert. Sich dort einnistet. Hoffentlich bis in alle Ewigkeit. Denn es ist der schönste Geruch der Welt. Eigentlich wird der Begriff „Geruch“ diesem olifaktorischen Erlebnis nicht einmal annähernd gerecht. Es ist ein Duft, der seinesgleichen sucht und nie finden wird. Eine perfekte Symbiose. Ein Zusammenspiel aus endloser Unbeschwertheit. Nicht zu übertreffender Sorglosigkeit. Purer Leichtigkeit. Übersprudelnder Lebensfreude. Der Duft von Freiheit. Ja, das ist es. So riecht Freiheit. So echt und rein. Alles ist möglich. Alles macht auf eine unverständliche Art und Weise so viel Sinn. Alle Türen stehen ihr offen. Ja, die Welt liegt ihr zu Füßen. Sie könnte platzen vor Neugier darauf, was sie wohl machen wird mit ihrem Dasein in diesem Leben. Es wird etwas Großartiges sein. Sie war sich noch nie so sicher.
Mit Filter?
Ich ziehe an meiner keine Ahnung wievielten Zigarette an diesem für Hamburg erstaunlich heißen Sommertag und merke gar nicht, dass ich den Filter schon fast mitrauche. Was mich nicht davon abhält, auch diesen Zug in vollen Zügen, was für ein Wortspiel, Gott, mein kreativer Geist ist so brilliant, zu genießen als wäre es das letzte, was ich jemals tun würde. Das Kopfsteinpflaster unter mir glüht, die Bässe wummern in meinem benebelten Hirn und bringen meine Organe zum Beben. Trotz der beachtlichen Menge Alkohol, die ich über den Tag zu mir genommen habe, ist mein Geist hellwach. Mein Verstand zum Schneiden scharf. Mein Herz klopft gegen meine Brust, ein Gedanke jagt den nächsten. Ich kann mich nicht entscheiden, welcher der Beste ist, sie scheinen mir alle genial großartig. Ich will sie festhalten, aber sie verpuffen einfach. Einer nach dem anderen. In der nächsten Sekunde habe ich den letzten vergessen, der bereits von einer neuen Idee wie ein Laster plattgewalzt wird. Mein Schädel brummt. Verschwitzte Körper drängen sich aneinander, ich drehe mir die nächste Zigarette. American Spirit. Der Blaue. Voll lecker. Gab es umsonst als Promotion-Aktion. Kann mich schon nicht mehr erinnern, was ich da gerade unterschrieben habe. Ach ja. Süddeutsche Zeitung. Gar keinen Bock auf ein Abo. Hoffentlich kriege ich das schnell wieder los. Interessiert mich gerade kein Stück, was in der Welt passiert. Ich bin so was von Hier. Im Hier und Jetzt. Nichts anderes zählt. Ich bin jung. Ich bin frei. Und so glücklich, dass ich es kaum aushalte. Die Küsse schmecken bitter-süß. Etwas herb. Das mag ich. Aber auch das Süße hat was. Hauptsache nicht süß-sauer, bah. Das Leben ist gut. Und groß. So groß. Die Zeit rennt, sie ist doch viel zu kurz, um alles zu sehen. Alles zu erleben und zu greifen. Festzuhalten für immer. Plötzlich macht mir das Angst. Ich will noch so viel erleben. Das Leben so intensiv leben wie jetzt in diesem Moment. Mein Herz klopft schneller. Die Luft ist rauchig und warm. So wunderschön.
Zu gut, um wahr zu sein?
Sie versucht, sich in der wogenden Menge von Körpern noch etwas näher an die Boxen vorzudrängeln. „Ey, was soll ’n das?“, pampt es von rechts. „Diggah, entspann dich mal“. Wo sind eigentlich ihre Leute hin? Auch egal, die wird sie schon wieder finden. Hier ist es gut, hier ist es noch lauter. Sie braucht diese extremen Reize, um sich lebendig zu fühlen. Will alles so tief in sich aufnehmen, dass sie sich für immer daran erinnern kann. Der DJ wechselt und der nächste hat offenbar richtig Bock. Die Techno-Bässe hämmern jenseits von Gut und Böse alles weg, was jemals auch nur annähernd an Ort und Stelle war. Ort und Stelle ist eh langweilig, sie konnte Routine und Alltag noch nie leiden. Ein Klotz am Bein, der einen von den wirklich wichtigen Dingen im Leben abhält. Sie denkt nicht an Morgen, denn darum geht es hier gerade nicht. An der Kreuzung zu ihrer Straße haben sie dieses Jahr eine spartanische, aus wirren Schläuchen zusammengeschraubte Dusche hingestellt. Das Handy zeigt 33 Grad. Eine Seltenheit in ihrer Herzensstadt, danke Hamburg, du geile Sau. Ihr ist heiß, irgendjemand drückt ihr ein kaltes Heineken in die Hand, nice, danke, und sie stellt sich in ihren Shorts und dem weißen Top unter den kühlen Schauer. Dieser löscht die Kippe in ihrer linken Hand und befeuert die Gefühle von Glück und Liebe und tiefer Dankbarkeit in ihrem Inneren. Für dieses Leben. Dass sie auf diese Welt gekommen ist. Leben darf. „Wet T-Shirt-Contest!“, brüllen ein paar Jungs. Sie lacht. Fast ein bisschen zu laut. Aber was ist schon zu laut in diesem Bunten Dasein.
Abgeblättert.
Es ist noch nicht lange her, vielleicht zwei Wochen. Oder drei? Ich kann es nicht sagen. Jeder Tag wie in Blei gegossen. Zeit und Raum verschwommen, ein grauer Schleier, der meinen Geist, meinen Körper, meine Seele umhüllte. Endlose Traurigkeit und eine so tiefe Verzweiflung, die mit Worten nicht zu beschreiben war. Ich lag in meinem Bett, tagelang. Dass ich nicht aufstehen konnte, hatte ich schon akzeptiert. Aber ich konnte mich nicht einmal von einer auf die andere Seite drehen, was mir dann schon etwas zu abgefuckt erschien. Ich versuchte über eine Stunde, mein Gehirn davon zu überzeugen, dass ich mich jetzt gleich umdrehen wollen würde. Weil es auf der einen Seite nämlich langsam richtig scheiße ungemütlich wurde. Ich wusste nicht, wie lange ich schon meine Raufasertapete angeglotzt hatte. An manchen Stellen blätterten kleine Stücke ab. Das war ich im Traum gewesen. Manchmal kratzte ich mich selbst im Schlaf, meistens an der Schläfe oder Richtung Stirn. Warum wusste ich nicht. Vermutlich weil ich so intensiv träumte. Das war stärker geworden seitdem ich die Medikamente nahm. Jeder Traum war so lebendig, dass ich mein Erleben darin nicht von der Wirklichkeit trennen konnte. Das war davor nicht so. Bevor alles in sich zusammengefallen war wie ein stümperhaft und achtlos aufgebautes Kartenhaus. Und manchmal war halt offenbar die Wand dran.
Staub zu Staub.
Sie will nicht, dass dieser Tag jemals zu Ende geht. Die Ewigkeit ist fühlbar, aber sie weiß, dass die Uhr ihr einen Strich durch die Rechnung machen würde. Wer hatte eigentlich so etwas Bescheuertes wie Zeit erfunden. Sie erinnert sich an die Klasse in der Grundschule, in der sie lernen sollten, die Uhrzeit zu lesen. Wie sie es einfach nicht kapiert und länger als alle anderen gebraucht hatte, um es irgendwann zu können. Wie sie sich geschämt hatte. Da fängt doch das ganze Übel bestimmt schon an. Mit dem Moment, in dem wir als vor Phantasie nur so sprudelnde unschuldige kleine Wesen in die Schule kommen. Der Prozess, der aus unserer Individualität etwas machen soll, dass uns so formt, dass wir reinpassen in das große Ganze. So passen wie diese Förmchen, die man in die dafür vorgesehenen Öffnungen steckt. Das Quadrat kommt ins Quadrat. Der Kreis in den Kreis. Der Stern in den Stern. Aber was ist, wenn ich nun mal lieber den Kreis ins Quadrat stecken will? Oder gar andersrum? Der Kreis im Quadrat würde an vier Ecken Leerstellen haben. Leerstellen, die im System nicht vorgesehen sind. Leerstellen, die uns Raum geben könnten, der beim Quadrat im Quadrat und beim Kreis im Kreis nicht vorhanden ist. Raum, den wir bereits als Heranwachsende kontinuierlich mit dem füllen könnten, was uns in unserem Innersten bewegt und begeistert. Was unsere Ideen, unsere ganz eigenen Talente fördert und unserer Kreativität Platz macht. Damit all das wachsen und uns zu selbstbestimmten und zufriedenen Individuuen heranreifen lassen könnte. Für ein Leben mit Sinnhaftigkeit und voller Möglichkeiten und Überraschungen.
Aber was wir lernen ist, dass das Quadrat ins Quadrat gehört, der Kreis in den Kreis soll und der Stern doch bitte in den Stern. Und als ob das nicht reichen würde, wird all das dann noch bewertet. Von eins bis sechs. Denn offenbar gibt es bessere und schlechtere, richtige und falsche Wege, ein Quadrat in ein Quadrat zu stecken. Ganz zu schweigen von dem Kreis im Quadrat natürlich. Außerdem wäre es toll, wenn unser Quadrat im Quadrat noch schöner und besser passen würde als die von unserem Klassenkameraden. Der hat dann eine drei und wir eine eins. Und schwupps fühlen wir uns wertvoll. Wir lernen, dass unser Wert von äußeren Maßstäben abhängt. Von der Meinung und Bewertung anderer. Dass wir nicht schon komplett und etwas wert sind, nur weil wir eben da sind. Wir müssen es erst zu etwas bringen im Leben. Jahre später fragen wir uns, warum wir so unzufrieden sind. Es gibt immer jemanden, der besser ist als wir. Wir können nur verlieren. Und wir wundern uns, warum wir nicht endlich die erhoffte Selbstverwirklichung finden in diesem, jenem und dem nächsten Job. Wollen und sollen und müssen uns verwirklichen. Dürfen vielmehr. Denn die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung ist ein Luxus unserer Generation. Unser Selbst. Verwirklichen. Plötzlich stellen wir fest, dass wir gar nicht wissen, wer oder was wir wo und wann für wen und wie sein wollen. Geschweige denn, was es mit diesem Selbst in uns auf sich hat.
Schwer was los.
Alle Türen stehen ihr offen. Und als nächstes ist das für heute erstmal das prunkvolle Tor des Rathauses, wo das nächste Open Air stattfindet. Zum Glück haben die Mädels das rausgefunden. Ihre Klamotten sind längst wieder trocken. Sie hat jegliches Gefühl für die Zeit verloren. Vielleicht ist es zwei Uhr morgens, vielleicht auch erst zwölf. Wer weiß das schon. Die weiß getünchten Wände des Rathausinnenhofs sind in bunte Farben getaucht. Leuchtendes Magenta legt etwas Magisches über die tanzende Menschenmasse, ein warmer Wind veranlasst die Härchen auf ihrem Unterarm, sich in freudiger Erwartung aufzurichten. Gespannt darauf, was als nächstes passiert. Sie streicht über andere Härchen auf Armen, die sie von hinten umschlingen. Sie hatte schon immer eine Schwäche für tättowierte Unterarme. Fühlt sich geborgen. So fühlt es sich an, wenn man zur genau richtigen Zeit am genau richtigen Ort ist. Ihr Körper bewegt sich zur Musik und lässt sich treiben, braucht keine Instruktionen, wie oder was er tun soll. Das Bier kühlt von innen, ein Dunst aus Kunstnebel und Zigarettenrauch schwebt über ihren Köpfen. In der Luft liegt Verbundenheit. Liebe. Frieden. Letzten Endes wollen wir doch alle das Gleiche im Leben, oder nicht? Ihr Herz hämmert stärker gegen ihre Brust, der Sturm an Gedanken in ihrem Kopf nimmt nochmal so richtig Fahrt auf. Beim Drehen der nächsten Zigarette zittern ihre Hände. Sie hat schon lange nicht mehr gegessen. Oder geschlafen. Aber dafür ist jetzt keine Zeit. Schlafen kann sie, wenn sie tot ist. Vielleicht im Herbst.
Aber noch ist er da.
Der Duft von Freiheit.