Was da ist.

Gerade ist jeder Tag ein Kampf. Das geht jetzt schon seit über zwei Wochen. Zwei Wochen, von denen jeder Tag ein Tag zu viel ist. Es ist unfassbar anstrengend. Ein paar Mal dachte ich schon, ich wäre aus dem Loch rausgekrabbelt. Dachte, das wäre jetzt aber wirklich der absolute Tiefpunkt gewesen und ab morgen würde es wieder besser werden. Habe mich optimistisch auf dem aufsteigenden Ast gewähnt. Und wieder den Halt verloren. An einem dieser Abende letzte Woche habe ich es geschafft, mir einzugestehen, dass ich das gerade nicht alleine stemmen kann, dass mich diese Traurigkeit zu erdrücken droht, der Schmerz zu vernichtend ist, um ihn zu tragen, ohne dabei gestützt zu werden.
Next level.
Die Angst, zu viel oder zu anstrengend zu sein, nicht bedürftig sein zu wollen, sich deswegen schwach zu fühlen, die Erwartung an sich selbst haben, das doch jetzt alleine schaffen zu müssen…nicht nur mit Abstand, sondern selbst in diesem Ausnahmezustand selbst bin ich mir des Faktes bewusst, dass diese selbst verurteilenden und gnadenlosen Gedanken und Schlussfolgerungen, diese Ängste, Vergleiche, der ohrenbetäubende innere Kritiker…nicht gesunde Gedanken sind, die auch nur annähernd im Verhältnis mit irgend etwas stehen, sondern meine depressiven Gedanken. Selbstzerstörerische Gedanken, die mich nur noch mehr in den schwarzen Schlund reißen wollen. Eine der größten Errungenschaften im Zwiegespräch mit unserem übereifrigen Gedankenapparat da oben ist wohl, dass unsere Gedanken nicht der Wirklichkeit entsprechen (müssen). Dass sie nur Gedanken sind. Ich weiß das mittlerweile. Sehr gut sogar. Es hilft mir in ganz vielen Situationen.
Wenn ich in einer depressiven Phase allerdings schon bis zum Hals in der Scheiße stecke, entfalten diese Gedanken in dem Moment, in dem sie durch meinen Kopf rauschen, trotz allem ihre Wirkung und lassen mich noch schlechter fühlen. Obwohl ich weiß, dass sie nicht der Wirklichkeit entsprechen. Vielleicht ist das ja so next level shit, das ich dafür noch ein bisschen brauche.
Bodenlos.
Zurück zu diesem Abend. Unter größter Anstrengung schaffe ich es irgendwie, einen mir sehr nahe stehenden Menschen zu kontaktieren. Der mich seit Jahren kennt und der auch um meine Erkrankung weiß. Der mich schon ein paar Mal „am Boden“ erlebt hat. Klar, ich soll jederzeit vorbei kommen. Scheiß drauf, ich lasse meine Schlafanzughose an, ziehe einen Pulli über und begebe mich wie in Trance auf den Weg in einen anderen Stadtteil. Jeder Schritt so unglaublich anstrengend. Das „am Boden“, das dieser Mensch heute zu sehen bekommt, stellt die anderen Bodenbesuche allerdings mehr als in den Schatten. Da ist Schock. Da ist Überforderung. Da ist Hilflosigkeit. Was meine eigene Hilflosigkeit in dem Moment ins Unermessliche wachsen lässt. Sich zu meiner Traurigkeit ein Gefühl der Einsamkeit gesellt.
Ihr alle. Und doch nur ich.
Die Art von Einsamkeit, die wir verspüren, obwohl wir unter Menschen sind. Menschen, die uns lieben. Die immer für uns da sind. Die uns in- und auswendig kennen. Die uns schon unser ganzes Leben, seit Jahren oder Jahrzehnten begleiten. Nie von unserer Seite gewichen sind. Mit denen wir gelacht, geweint, gefeiert und getrauert haben. Durch Höhen und Tiefen gegangen, uns in guten wie auch schlechten Zeiten beigestanden haben.
Die Art von Einsamkeit, die ihr schwarzes Tuch über uns wirft und die Menschen im Außen daran ziehen und zerren können, so viel sie wollen. Sie können uns nicht davon befreien.
Die Einsamkeit, die uns scheinbar von allem anderen um uns herum abtrennt. Uns bewusst macht, dass uns niemand diesen Schmerz nehmen kann.
Die Königsdisziplin der Einsamkeit.
Wenn Liebe nicht reicht.
Einerseits verzweifeltes Flehen danach, doch bitte dieses eine Mal einfach die Verantwortung abgeben zu dürfen und gleichzeitig das Wissen darum, dass nur wir selbst durch diese Gefühle gehen können. Dass uns das niemand abnehmen kann.
Die dunkelsten Momente meiner depressiven Phasen, in denen mir selbst die mir am nächsten stehenden Menschen nicht auch nur ein Milligramm der Last auf meinen Schultern nehmen konnten, in denen nichts und niemand mehr zu helfen schien, in denen ich mit voller Wucht gegen die Mauern gerannt bin, die die Grenzen der Hilfe und Belastung meiner Liebsten waren. Diese Momente haben mir am meisten Angst gemacht. Wenn nicht mal das, was in allen anderen Lebenslagen, immer und überall, egal wo und wie, geholfen hat, mehr helfen kann.
Psychische Erkrankungen betreffen nicht nur die Menschen, die an ihnen erkrankt sind, sondern auch unser gesamtes soziales Umfeld. Familie, Freund*innen, Partner*innen. Und selbst wenn diese alles in ihrer Macht stehende tun, um uns zu helfen, kann es sein, dass das nicht reicht. Wir dürfen nicht von ihnen erwarten, dass sie uns heilen. Sind wir körperlich erkrankt, erwarten wir das auch nicht. Die Menschen in unserem Leben haben ihre Grenzen. Einen Punkt, an dem es nicht weiter in ihrer Macht steht, uns helfen zu können. So sehr sie das auch wollen. So sehr sie uns auch lieben. Unsere Angehörigen können und sollen unsere psychische Erkrankung nicht tragen. Und das hat nichts mit der tiefen Zuneigung, Liebe und Loyalität zu tun, die sie uns gegenüber empfinden. Oder der Stabilität unserer Beziehung zu ihnen. Diese kann noch so stark sein und unkaputtbar scheinen, aber sie darf und kann dieses Gewicht nicht alleine tragen.
Wir mögen allerdings auf unserem Lebensweg immer wieder in Versuchung gekommen sein, zu glauben, dass Liebe allein reicht. Dass sie alles besser macht. Dass sie uns immer helfen kann. Dass es mit ihr immer besser ist als ohne sie. Dass sie heil machen kann, was kaputt ist. Wir denken an all die Situationen in unserem Leben, an all die schwierigen und traurigen Momente, in denen uns Liebe und Zuneigung trotz allem immer Trost gespendet haben.
Aber Liebe ist nicht immer die Antwort.
Keiner sieht was geht.
„Ich versteh‘ einfach nicht, warum es dir nicht besser geht, wenn ich dich tröste, warum es nicht reicht, dass ich da bin“, hat mich der damals wichtigste Mensch in meinem Leben in einer meiner ersten depressiven Phasen (als ich noch weit entfernt von der Bipolar-2-Diagnose war) immer wieder gefragt. Ich konnte ihm keine Antwort geben. Und habe mich noch schlechter gefühlt. Ich wusste nur, dass Liebe hier anscheinend plötzlich nicht mehr reichte. Nicht funktionierte wie bisher. Nicht nur partnerschaftliche, auch familiäre Liebe spielte plötzlich nach anderen Regeln.
Und es machte mir eine scheiß Angst. Wenn so viel Liebe nicht reicht, dann kann es keine Hoffnung mehr geben. Davon war ich fest überzeugt. Und zutiefst verzweifelt darüber.
Genau wie bei körperlichem Leiden gibt es Fachleute, an die wir uns wenden können und sollen, wenn nicht der Körper, sondern unsere Seele leidet. Die dafür ausgebildet sind. Die uns helfen können. Mittlerweile weiß ich, dass es einzig und allein meine eigene Verantwortung ist, mir diese Art von Hilfe zu suchen. Eine Verantwortung, die ich nicht abgeben kann, auch wenn das leichter scheinen mag (Fälle, in denen Betroffene nicht (mehr) in der Lage sind, diese Verantwortung zu übernehmen oder selbstbestimmt zu entscheiden, natürlich ausgenommen, ich kann hier wie immer nur für mich selbst sprechen). Dass, auch wenn ich die wunderbarsten Menschen, die man sich nur wünschen kann, in meinem Leben habe, letzten Endes trotzdem immer nur ich selbst durch diese Gefühle und Episoden gehen kann, um weiter mit ihnen umgehen zu lernen, sie immer wieder auf’s Neue hinter mir zu lassen und weiterzumachen.
Unsere Angehörigen können uns weder retten noch heilen. Und das sollen sie auch nicht.
Sie können uns auf unserem Weg begleiten. Unsere Hand nehmen. Mit uns in dieselbe Richtung gehen.
Die Schritte auf diesem Weg müssen und können jedoch nur wir alleine machen.
Und dort, wo Liebe nicht die Antwort sein kann, unsere Fragen anders stellen.