Learn from the worst.

Bildquelle: Sophie Liehr

Alles zu seiner Zeit.

Es hat etwas länger gedauert, bis ich mich zum Schreiben dieses Blogartikels durchringen und den dafür nötigen Raum schaffen konnte. Einerseits weil mich mein Schreibworkshop, den ich seit einem Monat gebe und dessen Vor- und Nachbereitung voll und ganz vereinnahmt, vor allem auch geistig, und nebenher auch noch Uni zu machen wäre, was leider gerade etwas zu kurz kommt, aber vor allem, weil ich mir einfach nicht sicher war, wie ich diese sensible Thematik in einen Text packen soll. Ich habe mir tagelang Gedanken gemacht, wie ich die Dinge, die ich ausdrücken möchte, am besten formuliere, damit sie nicht falsch rüberkommen oder belehrend wirken. Nachdem ich dann den Spiegelartikel „Corona-Pandemie – Was wir von Depressiven lernen können“ gelesen hatte, der eigentlich genau das beschreibt, was ich die ganze Zeit im Kopf hatte, war ich nicht mehr ganz so verunsichert und werde deswegen nun einfach schreiben, was ich dazu sagen möchte. In dem Wissen, dass man es nie allen Recht machen kann, es immer verschiedene Meinungen geben wird und ich sicher bin, dass alle meine Leser*innen sich bewusst sind, dass ich mit meinen Formulierungen immer so vorsichtig wie möglich bin.

Learning by experiencing.

In ihrer Kolumne https://www.spiegel.de/kultur/corona-pandemie-was-wir-von-depressiven-lernen-koennen-a-93f4e953-d48d-45e4-bbf8-8426376a5bbc behauptet Autorin Margarete Stokowski, die selbst jahrelange Erfahrung im Umgang mit Depressionen hat, dass all jene Menschen unserer Gesellschaft ohne einschlägige psychische Vorbelastungen, die am Ende dieses Jahres und mit der aktuellen Situation des erneuten harten Lockdowns nun aber trotzdem mit den Nerven am Ende sind, sich ausgelaugt und leer fühlen, einiges von denen unter uns lernen könnten, die krisenhafte Situationen und schwierige Gefühle nur allzu gut kennen. Nicht in Form einer Pandemie, sondern durch die Depressionen, die sie bisher in ihrem Leben erlebt haben. Menschen, die sich in diesen Zeiten verschiedene Bewältigungsstrategien und Fähigkeiten angeeignet haben und gelernt haben, so gut wie möglich durch Zeiten zu kommen, in denen man glaubt, das war’s jetzt und die Hoffnung auf eine Besserung nicht mehr greifbar ist.

Nebenwirkungen.

Ich habe seit Beginn der Krise so viele Artikel über unsere Psyche in Corona-Zeiten sowie die Auswirkungen und Langzeitfolgen der Pandemie auf unsere psychische Gesundheit gelesen und auch selbst schon darüber geschrieben. In den meisten von ihnen liegt der Fokus auf den Gefahren und den besonderen Herausforderungen, die Corona und seine Begleiterscheinungen wie Arbeitslosigkeit, Social Distancing, finanzielle Sorgen, Einsamkeit, das Wegfallen eines festen Alltags und herkömmlicher Strukturen und noch vielem mehr vor allem für die psychisch kranken Menschen unserer Gesellschaft darstellen. Die nicht auf eine solide mentale Grundstabilität bauen können. Die Rückfälle erleiden. Deren Krankheitsverläufe sich verschlimmern. Suizidraten, die steigen. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass die Pandemie und alles, was sie mit sich gebracht hat, nicht per se positiv zur mentalen Verfassung beitragen muss, vermutlich bei niemandem von uns. Und da mich der Beginn der Pandemie und der erste Lockdown dummerweise in einer leichten depressiven Phase erwischt haben, kann ich auch bestätigen, dass all das in meiner damaligen Verfassung eine sehr viel größere Herausforderung war und mich sehr viel mehr Kraft und Energie gekostet hat, als es das in einer stabilen Phase wie der jetzigen getan hätte. So wie alles mehr Kraft und Energie kostet und unfassbar schwer und fast unmöglich scheinen kann, wenn man sich in einer depressiven Phase befindet.

Ich hatte das Glück, dass es sich nur um eine recht leichte und kurze Phase handelte, in der ich während der ersten Tage meiner freiwilligen Quarantäne zwar das erste Mal in zwei Jahren das Notfalltelefon meiner Therapeutin in Anspruch nahm, weil ich so verzweifelt war, dass ich mir in diesem Moment selbst nicht mehr zu helfen wusste, ich mich aber durch die Anwesenheit und Geborgenheit meiner Familie, zu der ich mich dann aus der Stadt flüchtete, einer vorübergehenden Aufdosierung eines meiner Medikamente und den Beginn des Frühlings sehr schnell wieder stabilisierte und dadurch die Kraft und Energie hatte, mir innerhalb kürzester Zeit einen neuen Alltag ohne Arbeit, jegliche bis dato da gewesene Struktur und mein gewohntes Umfeld, dafür aber mit social distancing, all den tagtäglichen Hiobsbotschaften und damit verbundener Verunsicherung und Sorge geschaffen hatte.

Die Mischung macht’s.

Wie so oft ist es schwierig bis unmöglich, manchmal auch unnötig, genau abzugrenzen, woran es denn jetzt eigentlich liegt, dass das jetzt plötzlich besser geht. Meistens interessiert einen dann erstmal einfach nur, DASS es besser geht. Punkt. So war es bei mir oft, nachdem eine depressive Episode vorbei war. Wenn in diesem Zuge die Medikamente aufdosiert worden waren, ich aber selbst auch alles getan und ins Rollen gebracht hatte, damit es mir besser geht, hätte ich manchmal trotzdem gerne gewusst, an was von alldem die Verbesserung nun eigentlich gelegen hat. Meistens war ich aber so froh, erleichtert und dankbar, dass es mir wieder besser ging und Licht am Ende des Tunnels war, dass mir das ehrlich gesagt herzlich egal war. Mittlerweile bin ich überzeugt, dass es immer eine Mischung aus allem ist. Allein auf die Wirkung von Medikamenten zu vertrauen und sich dann ins Bett zu legen und abzuwarten wird ziemlich sicher nicht die erwünschte Wirkung zeigen. Und je nach Schweregrad der Depression reichen leider auch Spazierengehen oder Meditieren allein nicht aus.

Alles schon jesehn, alles schon jehabt?

Ähnlich erlebe ich persönlich die zweite Welle und auch den zweiten Lockdown. Obwohl die pandemische Lage und die Zahlen, die Situation auf den Intensivstationen und die Überlastung des Gesundheissystems sehr viel ernster, besorgniserregender und dramatischer sind als im Frühjahr fühlt es sich für mich nicht so bedrohlich an wie in der ersten Welle. Ein Eindruck, den ein Teil meines Umfelds teilt. Ich denke, dass das nicht ungewöhnlich ist, obwohl man ja meinen könnte, je schlimmer die Lage, desto größer die Ängste und Sorgen. Ich bin weder Unternehmerin noch Ärztin, Virologin, Pflegekraft oder Poltikerin, deswegen kann ich hier nur für die Rolle sprechen, die ich in meiner aktuellen Situation als momentan arbeits- und kinderlose junge Frau und den damit verbundenen Umständen und Herausforderungen gerade innehabe. Und einer der Gründe, warum ich mit der Situation dieses Mal so viel besser umgehen kann, ist meiner Meinung nach schlicht und ergreifend die Tatsache, dass es schon das zweite Mal ist. Dass wir „das alles“ mittlerweile schon „kennen“, schon mal ähnlich erlebt haben. Vielleicht auch die Tatsache, dass ein Impfstoff in Sicht ist. Dass wir sehr viel mehr über das Virus wissen als ganz zu Anfang der Pandemie. Etwas das uns trotz der noch ernsteren Lage als im Frühjahr vielleicht zuversichtlicher sein lässt.

Isolation Creation!

Die Hoffnung, dass es irgendwann ein Ende geben wird, auch wenn es noch nicht in Sicht ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass wir in verschiedensten Lebensbereichen in der Zwischenzeit ganz schön kreativ geworden sind, seien es nun virtuelle Treffen mit Freunden und Vorlesungen per zoom, Home Office, kleine süße Gewächshäuser vor einem Café, um die Abstände zu wahren, die digitale Weihnachtsfeier, zu der wir das Menü und den Vino per Paket nach Hause geliefert bekommen und uns dann gemeinsam vor dem PC mit lustigen Weihnachtspullis und Rudolfhaarreifen einen reinstellen und so viele andere tolle Ideen und Umsetzungen, von denen mittlerweile einige schon wieder nicht mehr gehen. Aber der Wille, die Kreativität und die Anpassungs- und Improvisationskunst des Homo sapiens waren und sind auf jeden Fall da.

Ich glaube, all diese Aspekte spielen bei einigen Menschen unserer Bevölkerung, und zwar egal ob psychisch krank/vorbelastet oder nicht, eine große Rolle bei einem besseren Umgang mit der Coronakrise, einer stabileren mentalen Verfassung und vielleicht auch einer größeren Akzeptanz. Genau so gibt es natürlich auch die genau entgegengesetzte Entwicklung, nämlich dass die zweite Welle für den Rest unserer Bevölkerung aus verschiedensten bereits erwähnten Gründen wie den höheren Zahlen, fast nicht mehr tragbaren Überlastungen des Gesundheitssystems, all jener, die an vorderster Front jeden Tag fast Unmögliches leisten und den anhaltenden und wiederkehrenden wirtschaftlichen, finanziellen oder familiären Belastungen als deutlich schlimmer und verheerender erlebt wird oder es auch schlicht und ergreifend ist.

Für jeden ein Päckchen!

Auch wenn diverse persönliche Situationen und die damit einhergehenden Belastungen, Herausforderungen und Einschränkungen natürlich immer höchst individuell sind und nicht einfach über einen Kamm geschoren werden können, so gibt es doch ein paar Dinge, von denen wir alle in gleicher Form betroffen sind. Der neue Lockdown. Die Konfrontation mit den Zahlen, die Unvorhersehbarkeit in so vielen Bereichen, die Ungewissheit, wie, wann und ob das alles enden wird, Kontaktbeschränkungen, Hygienekonzepte, Veränderungen im beruflichen Umfeld. Manche mehr, manche weniger. Die alleinerziehende Mutter, die weiterhin Vollzeit arbeiten kann (oder muss), und zwar aus dem Home Office, deren Kinder nicht mehr in die Schule gehen können und deswegen nur zu Hause sind und sie sich zwischen Kinderbetreuung, Haushalt, Arbeit und der Vermeidung eines damit verbundenen Nervenzusammenbruchs vierteilen muss steht vor anderen Herausforderungen als der Single, der aufgrund seiner Branche nicht mehr arbeiten kann, nur noch zu Hause oder mal kurz im Supermarkt ist und seine Freunde höchstens digital trifft, der sich widerum in einer anderen Situation befindet als die Omi im Altersheim, die seit Monaten keinen Besuch mehr bekommen, ihr Zimmer nur noch im Notfall verlassen darf und der die Einsamkeit mehr zu schaffen macht als all ihre körperlichen Gebrechen zusammen.

Gerade du?!

Und doch beobachten wir völlig unabhängig von den individuellen Menschen und Situationen das Phänomen, dass manche von uns mental sehr viel besser durch diese Krise kommen als andere. Dass sich wider Erwarten sogar jene, von denen man es am wenigsten erwartet hätte, unfassbar schwer tun und am Ende ihrer Kräfte und Kapazitäten sind, während Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen auch ohne Pandemie tagtäglich kämpfen müssen und zumindest augenscheinlich schlechter für Krisenzeiten gerüstet sind als der Rest der Bevölkerung, dieses Jahr verhältnismäßig locker weggesteckt haben und dabei erschreckenderweise sogar noch die Ruhe in Person geblieben sind. Obwohl wir sie in anderen Zeiten, in denen doch scheinbar alles gut war, so verzweifelt, am Boden und hoffnungslos gesehen haben, dass es uns als Angehörigen eine Scheiß-Angst eingejagt und uns hilf- und machtlos zurückgelassen hat. Ich spreche von psychisch kranken Menschen im Allgemeinen. Depressiven Menschen im Speziellen.

Alles hat seinen Zweck.

Margarete Stokowski wirft zu Beginn ihres Artikels (https://www.spiegel.de/kultur/corona-pandemie-was-wir-von-depressiven-lernen-koennen-a-93f4e953-d48d-45e4-bbf8-8426376a5bbc) also zu Recht die Frage in die Runde, was die bisher psychisch gesunden und so stabilen Menschen in unserer Gesellschaft von denen unter uns lernen können, für die diese Pandemie trotz ihrer massiven Wucht und ihres enormen Bedrohungspotenzials einfach nicht mit all den Kämpfen, die wir im Laufe unseres Lebens bisher geführt haben, mithalten kann. Und zwar nicht mal annähernd. Die wir uns über Jahre oder Jahrzehnte hinweg Überlebens- und Bewältigungsstrategien angeeignet haben, um diese Täler immer wieder auf’s Neue zu durchwandern. Ein kunterbuntes und hart erarbeitetes Repertoire an Ressourcen und Tools aus unseren schwärzesten Zeiten, die uns nun zu Gute kommen und uns in manchen Hinsichten einen gewissen Vorteil gegenüber den weniger Krisenerfahrenen unter uns verschaffen können.

Eine aus diversen inneren Krisen entstandene Resilienz, die dieser globalen Krise im Außen nun unerschrocken die Stirn bietet.

Eine Krisenfestigkeit, die uns einen Puffer zwischen unserem Seelenheil und der aktuellen Bedrohung im Außen verschafft.

Die Entwicklung einer solchen Krisenfähigkeit setzt die Erfahrung mit und das Durchleben von Krisen voraus. Theorie reicht hier nicht. Ohne Krise keine Krisenfähigkeit. Je mehr Krisen wir überstanden haben, desto besser wird diese. Desto größer ist unser Erfahrungsschatz.

Wir mögen in akuten depressiven Phasen nicht die besten Ansprechpartner*innen für „5 Gründe warum ich es liebe, morgens wie ein junges Reh aus meinem Bett zu hüpfen“ sein.

Aber wir haben gelernt zu akzeptieren, dass das Reh auch mal liegen bleiben darf.

Wie es sich während dieser Zeit nicht wund liegt.

Und wir wissen aus Erfahrung, dass es bisher noch jedes Mal irgendwann wieder weiter gehüpft ist.

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