Wo Großhartzigkeit klein geschrieben wird.

Bildquelle: Lisa C. Waldherr

Jeder für sich

Es ist eine Sache, aufgrund von Corona seinen krisensicheren Job vorerst aus dem Home Office ausüben zu müssen. Was, versteht mich bitte nicht falsch, ganz bestimmt diverse andere und nicht minder schwierige Herausforderungen mit sich bringt und das vor allem im Frühjahr tat, als Schulen und Kindergärten geschlossen waren, die gesamte Familie zusammen zu Hause war und die Eltern oder alleinerziehende Mütter und Väter irgendwie ihre eigene Arbeit von zu Hause aus, den Haushalt, die Kinderbetreuung und zusätzlich noch einen Teil des Home Schoolings übernehmen oder zumindest beaufsichtigen mussten. Es ist eine Sache, wenn man aufgrund von Corona nicht mehr 100 % arbeiten kann und vorübergehend auf Kurzarbeit ist. Bisher ein ganz passables Gehalt bezogen hat und nun zwar finanziell etwas kürzer treten, aber noch nicht auf die Butter verzichten muss, weil die nicht mehr drin ist. Vielleicht einen Arbeitgeber hat, der es sich leisten kann, seinen Angestellten das Kurzarbeitergeld auf das bisherige Gehalt aufzustocken. Auch wenn man auf 0 ist.

Von 100 auf 0

Es ist eine andere Sache, wenn man in der Gastronomie arbeitet und erstmal wieder gar nicht arbeiten kann. Wie in dieser Branche nicht unüblich eigentlich vom Trinkgeld lebt. Nach Abzug der Fixkosten kaum mehr etwas übrig bleibt. Und jetzt auf Kurzarbeit 0 ist. Von den 70 Prozent des bisherigen Nettoentgelts, die ab dem vierten Monat KUG dessen Berechnung zugrunde liegen, könnte man sich nicht mal den winterfesten Schlafsack für’s Campen in einem Zelt 50 km außerhalb der Stadt leisten. Wenn es nicht so dramatisch wäre, wäre es fast schon lustig. Was bei einem geschlossenen Laden an Trinkgeld übrig bleibt, kann man sich ja recht schnell ausrechnen. Selbst schuld, wer in der Gastro arbeitet?

You cannot leave your head on!

Aber selbst das kann mich mittlerweile nicht mehr umhauen. Man lernt schließlich nie aus. Nachdem ich durch das vereinfachte und unbürokratische Verfahren während des ersten Lockdowns im Frühjahr mehrere Monate auf das Geld vom Jobcenter warten und alle zwei Tage eine andere noch fehlende Unterlage nachreichen durfte, von deren Relevanz sie offensichtlich erst nach dem Eintreffen der von ihnen im Brief davor eingeforderten Unterlagen erfahren hatten, und einmal einen kompletten Identitätsstriptease hinlegen musste, dachte ich mir dieses mal, ha! Ich kenn mich ja jetzt aus! Und schickte ihnen direkt am ersten Tag des Lockdown Lights die über zwanzig Anhänge, die sich im Laufe des ersten Verfahrens angesammelt hatten, inklusive einer mehr als ausführlichen Mail, in der ich alle angehängten Dokumente noch einmal auflistete und erklärte. Gott, war ich organisiert! So musste sich erwachsen sein anfühlen!

Finde den Anhang!

Zwei Tage später waren bereits zwei Briefe vom Jobcenter im Briefkasten. In dem einen befand sich ein lupenreiner Copy & Paste von der Liste, die ich ihnen in meiner Mail mitgeschickt hatte, versehen mit einem Ausdruck des Bedauerns darüber, dass sie leider all diese Dokumente nicht erhalten hätten. Kurz danach hatten sie aber wohl festgestellt, dass sich Anhänge, wie deren Name schon sagt, tatsächlich meistens im ANHANG der Mail befinden und direkt noch einen Brief hinterhergeschickt, in dem all diese Dokumente jetzt wohl doch nicht mehr fehlten, dafür aber dann doch noch ein paar andere, von denen noch nie zuvor jemals die Rede gewesen war. Außerdem würden sie gerne wissen, ob ich denn noch eine andere Tätigkeit ausüben würde als die von mir angegebenen. Dass mir das aber auch keiner gesagt hat! Dann muss ich wohl all die anderen Nebenjobs, die ich noch heimlich ausübe, auch noch auflisten. Die sind aber auch gemein! Und die Lohnabrechnung für November bräuchten sie natürlich noch, am besten jetzt gleich. Es ist Anfang November.

Paket der besonderen Art

In den Medien hieß es zu Beginn des zweiten Lockdowns erst wieder, es werde nicht nur einen vereinfachten und unbürokratischen Zugang zum Antrag von Hartz 4 geben, sondern es wird außerdem vorerst auf die sonst übliche Vermögensprüfung verzichtet werden. Welch großherzige Güte Sie haben walten lassen! Diesbezüglich hat das liebe Jobcenter sein Versprechen ganz brav eingehalten: Sie haben mich nicht nach meinem Vermögen gefragt! Aber sämtliche Kontoauszüge der letzten Monate bis tagesaktuell hätten sie dann aber trotzdem gerne. Oh! Haben wir da etwa eine 5,99 Euro-Paypal-Gutschrift für den letzten Windeltortenmoneypool entdeckt? Dann schicken Sie uns doch bei der Gelegenheit bitte direkt auch noch sämtliche Nachweise über jegliche Transaktionen auf ihrem Paypal-Konto der letzten zwanzig Jahre! Ich muss mich schwer zusammenreißen, nicht einfach in ein kleines aber feines DHL-Paket zu kacken und es ihnen mit Schleife und per Expresslieferung zukommen zu lassen. Damit sie sich, weil sie nämlich so verdammt schlau sind, direkt selbst um die Stuhlprobe kümmern und mich nicht im nächsten Brief erst fragen müssen, ob ich auch wirklich nur das gegessen habe, was sie da jetzt gerade gefunden haben oder ob ich da nicht etwa doch vielleicht heimlich einen Teil der von mir aufgenommenen Nahrung mit höchstkrimineller Energie durch meine Blase statt meinen Darm gejagt und diese wertvollen Informationen zu meiner Identität in einer nicht minder kriminellen Nacht- und Nebelaktion unwiederbringlich und ohne Rücksicht auf Verluste einfach in den nächsten Busch gepisst habe.

Hat dich jemand gefragt?

Ich möchte an dieser Stelle nur noch einmal kurz klarstellen, dass es sich hier gerade um eine Situation handelt, in der viele Menschen gezwungen sind, diese Anträge zu stellen und auf Hilfe vom Staat angewiesen sind, um ihre Existenz zu sichern. Nicht, weil sie einfach keinen Bock auf Arbeiten haben und lieber den ganzen Tag Zigaretten stopfen und wahlweise RTL 2 schauen oder sich von ihnen filmen lassen. Sondern einfach nur, weil ihnen gerade keine andere Wahl bleibt. Nichts gegen Zigaretten stopfen. Ich frage mich nicht zum ersten Mal, wie jemand, der sich in einer akuten psychischen Krise befindet oder angesichts der aktuellen Situation einfach psychisch labiler ist als sonst, jemand, der gerade depressiv ist, auch nur annähernd die Kraft und Energie aufbringen soll, diese Mühlen der Bürokratie irgendwie in Bewegung zu setzen. Zumal Krisen, als welche sich die Corona-Pandemie denke ich bezeichnen darf, immer auch eine gewisse psychische Belastung darstellen. Für alle Betroffenen. Egal ob psychisch vorbelastet oder nicht.

Schlimmer geht (n)immer

Natürlich gibt es auch hier wie immer verschiedene Betrachtungsweisen. Manch einer mag vielleicht finden, dass das Jammern auf hohem Niveau ist. Dass wir froh sein können, in einem Land zu leben, in dem es überhaupt so etwas wie finanzielle Unterstützung vom Staat gibt. Das stimmt. Dass wir dankbar sein können, wenn seit Beginn der Pandemie bisher „nur“ unsere Finanzen den Bach runtergegangen sind, aber nicht unsere Gesundheit. Stimmt auch. Dass es noch mal eine ganz andere Belastung ist, wenn man selbstständig ist, ein Unternehmen führt und die gesamte Existenz von der Krise gefährdet wird. Auch das stimmt. Aber nur weil es im Leben immer auch schlimmer (oder auch besser) geht, heißt das nicht automatisch, dass unsere individuellen Sorgen und Probleme deswegen keine Daseinsberechtigung haben. Und nur weil es nichts bringt und vergeudete Zeit und Energie ist, heißt das nicht, dass wir uns da mal nicht ordentlich drüber aufregen dürfen.

Post. Traumatisch.

Nachdem ich mich ein bisschen abgeregt und den ersten Brief mit den wie von Geisterhand im ominösen Anhangsnirwana von googlemail verschollenen Dateien direkt in die Tonne gekloppt habe, wird der tägliche Gang zum Briefkasten ab sofort zu einer fast schon liebgewonnenen neuen Routine. Ist fast wie Weihnachten. Man weiß nie, was einen hinter dem nächsten Türchen erwartet. Es bleibt spannend! Mal schauen, was heute noch so alles schief läuft!

Es ist nicht nur, dass die einen offensichtlich am liebsten nackt und in Embryostellung auf dem Seziertisch haben wollen. Oder dass solche Anträge und Ämter allgemein nicht unbedingt zu unseren liebsten Freizeitbeschäftigungen oder Zeitgenossen zählen. Es kotzt mich einfach an, dass sie große Töne spucken, wie unbürokratisch und schnell und vereinfacht das ja jetzt gerade alles ist. Extra für euch! Weil wir so nett sind! Einen aber in Wirklichkeit bis aufs Blut und teilweise über Monate hinweg drangsalieren, bis man die paar Euro bekommt, die einem in dieser nicht selbst gewählten Ausnahmesituation schlicht und ergreifend zustehen.

Sich als etwas ausgeben, das sie nun mal einfach nicht sind. Nämlich unbürokratisch und schnell.

Nur weil du Türen hast biste noch lange kein Adventskalender.

1 Comment »

  1. Ja, der „vereinfachte“ Zugang ist eher ein Existenzkiller 🙄🙄. Am besten noch blutigen Fingerabdruck bei Vollmond mit dem ersten Käuzchenschrei. Alle Kanäle genutzt und dann kommen Bögen nach an falsche Adresse wegen falschen Eintrags des Umzugsdatums 🤦!

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