Gemeinsam. Nicht einsam.

Das verschieb ich mal getrost auf morgen!
Ich bin nach langem Überlegen soeben zu dem Schluss gekommen, dass weder der Sauberheitsgrad meines Küchenbodens noch der meiner Ohren kriegsentscheidend für die Konzentration auf das Schreiben dieses neuen Blogartikels ist. Wer hätte das gedacht! Als Meisterin der Prokrastination hat mich diese Erkenntnis nicht gerade wie ein Hammerschlag getroffen und doch finde ich es immer wieder deprimierend, dass selbst das Wissen um die Hintergründe dieses Phänomens ebenjenes offensichtlich trotzdem nicht verhindern kann. Da kann ich mir leider noch so viele Youtube-Videos zum Thema anschauen. In kleinen Schritten denken, jaja, blabla. Weiß ich alles. Bei mir funktioniert eigentlich „einfach“ anfangen am besten. Einfach eine super Idee! Wenn das „einfach“ seinem Ruf wenigstens das kleine letzte bisschen Ehre gönnen würde.
Ursache oder Symptom?
Oft ist das erfolgreiche Prokrastinieren nur das Symptom. Bei mir sind die Ansprüche an mich selbst und mein Perfektionismus die Ursache. Nur das Symptom zu behandeln, wäre wie vergnügt Psychopharmaka einzuwerfen, ohne sein Lebensumstände und viele anderen Aspekte zu überdenken und sich geeignete Hilfe zu suchen. Hilft vielleicht kurz, hat aber keine langfristigen Erfolgsaussichten. An die Ursache müssen wir ran. Ich versuche mich also davon zu überzeugen, dass dieser Blogartikel nicht perfekt werden muss und das auch gar nicht kann oder soll. Weil es darum auch überhaupt nicht geht. Es geht darum, dass ich ihn überhaupt schreibe. Hiermit wäre der kleine Exkurs in meine Affinität zur Prokrastination auch schon wieder beendet und wenn ich es nicht so lange vor mir herschiebe, bis ich es aus den Augen verliere, schreibe ich vielleicht bald mal einen eigenen Blogartikel zum Thema.
Next!
Wir befinden uns nun also mitten in der zweiten Welle und im Lockdown Light. Die Pandemie geht in die nächste Runde. Während mich die erste in einer sowieso schon depressiven Phase kalt erwischt hatte, bin ich dieses Mal so stabil wie schon lange nicht mehr. Zum Thema psychischer Stabilität in Krisenzeiten (besonders auch in Corona-Zeiten) und wie ich persönlich mir diese gerade schaffe und bewahre gibt es mehr im nächsten Blogartikel!
Lasst es uns einfach „Glitzerkacke“ nennen!
Ich traue es mich so mitten in der Krise ja kaum zu sagen, aber es geht mir gerade tatsächlich einfach nur gut. Ich bin tiefenentspannt, glücklich, zufrieden und sehr bei mir. Ich konnte so viel Kraft und Energie aus den Erlebnissen und der Schönheit der Sommermonate schöpfen. Da ich mittlerweile nicht nur mit meinen depressiven Phasen umzugehen weiß, sondern mit jeder hypomanen Phase auch immer besser darin werde, meine Hochs als diese zu erkennen und dementsprechend zu handeln, habe ich das „Drübersein“, über das ich im letzten Artikel https://tanzzwischendenpolen.com/2020/10/06/scheisse-man-bin-ich-jetzt-also-fame/ geschrieben hatte, in vollen Zügen genießen und bewusst eine Zeit lang auch genau so „drüber“ sein lassen können, bevor ich dann, als ich fand, jetzt ist genug, auf die Bremse gestiegen bin. Dadurch bin ich nicht wie so oft mit voller Wucht direkt aus meiner kleinen feinen Glitzerwelt in den nächstbesten dampfenden Kackehaufen katapultiert worden, sondern wie auf Wattebäuschchen gebettet im „Dazwischen“ gelandet. Einem Zustand, in dem ich mich ausgeglichen fühle. In dem ich gesund bin.
Alle Lichter an!
Die Bezeichnung „normal“ möchte ich hier und auch generell gerne vermeiden. Noch in den letzten Hochphasen ist mir der rechtzeitige Absprung nicht gelungen. Dafür war alles in dieser Zeit einfach viel zu großartig. Ich habe mit Vollgas die Ausfahrt verpasst und musste dann wohl oder übel den eher üblen als wohlen Umweg zurück auf die richtige Route in Kauf nehmen. Aber nur so lernt man meiner Meinung nach den Umgang mit diesen Phasen. Das ist ein verdammt großer Fortschritt für mich, bezüglich meines eigenen Umgangs mit meiner Erkrankung. Etwas, worauf ich sehr sehr stolz bin. Denn der Weg dorthin war verdammt lang und hart und steinig. Ich habe die letzten Wochen und Monate so gut auf mich geachtet, dass mich gerade nicht mal ein Lockdown, vorübergehende Arbeitslosigkeit, daraus resultierender Geldmangel, Kontaktbeschränkungen oder verschärfte Maßnahmen umhauen können. Keine idiotischen Briefe vom Jobcenter. Auch nicht die kürzeren Tage. Und auch nicht die Dunkelheit. Denn in meinem Inneren ist es gerade strahlend hell.
Deine Sorgen, meine Sorgen.
Das Café, in dem ich arbeite, muss also vorerst wieder schließen. Ich habe damit gerechnet. Es tut weh, mit anzusehen, wie sehr die seit Frühjahr kontinuierlich präsente Sorge um die eigene Existenz und die Unsicherheit über die Zukunft unseren Chef mitnehmen. Natürlich lässt auch mich das nicht kalt, aber ich gestehe mir heimlich leise ein, dass ich gerade wirklich froh bin, nicht mit ihm und all den anderen Menschen tauschen zu müssen, denen es gerade so geht. Dass diese Sorge nicht auch noch on top kommt. Dass ich mich „nur“ mit dem Jobcenter rumschlagen und mir überlegen muss, wie ich mein Trinkgeld kompensiert bekomme. Ich hoffe ganz ganz fest, dass unser Café diese Krise überstehen wird. Das wünsche ich auch allen anderen da draußen, die in einer ähnlichen Lage sind, aus tiefstem Herzen. Aber ich weiß auch, dass sich dieser Wunsch nicht für alle erfüllen wird.
Apokalypse now?
Es ist das letzte Wochenende, an dem wir geöffnet haben. Montag soll der Lockdown Light in Kraft treten. Und die Leute fallen bei uns ein, als gäbe es kein Morgen mehr. Was zumindest am Sonntag ja in gewisser Hinsicht auch zutrifft. Allerdings wird es vermutlich auch nicht der letzte Tag gewesen sein, in dem die Menschheit in einem Café Kaffee und Kuchen zu sich nehmen können wird. Ich bin extrem zwiegespalten. Einerseits bin ich natürlich froh und erleichtert darüber, dass der Laden nochmal so einen guten Umsatz macht und ich so ein fettes Trinkgeld mit nach Hause nehme wie schon lange nicht mehr. Irgendwie verstehe ich die Leute, die diese Tage noch mal nutzen wollen, um „ein bisschen raus zu kommen“. Wenn man den Statistiken glauben schenken darf, stellen gastronomische Betriebe durch ihre strengen Hygienemaßnahmen und die eingehaltenen Abstandsregelungen nicht das Hauptinfektionsgeschehen dar und anscheinend hat sich nur ein sehr geringer Teil der Menschen in diesem Bereich infiziert. Stattdessen soll dies hauptsächlich im privaten Umfeld stattgefunden haben. Das soll als Info hier reichen, denn das hat mittlerweile vermutlich jeder mitgekriegt. Es tat mir auch unfassbar Leid zu sehen, wie viele tolle kreative Konzepte sich manche Läden haben einfallen lassen und neben Heizpilzen teilweise sogar kleine Gewächshäuser im Außenbereich aneinander gereiht haben, in denen jeweils nur zwei Gäste sitzen durften und ganz für sich waren. Es steht mir nicht zu, die Entscheidung der Bundesregierung diesbezüglich zu beurteilen und das möchte und kann ich auch nicht. Aber ich habe versucht, zu beobachten, was an diesen Tagen in meinem Kopf so abging.
Wut im Bauch, Zweifel im Kopf.
Trinkgeldkasse und Ladenglocke klingeln also um die Wette und abgesehen davon, dass gerade ein kleiner PMS-Sturm über mein Gemüt hinwegfegt, geht mir dieser absolut nervtötende Sound unserer Lichtschranke einfach nur unfassbar auf den Sack. So sehr, dass ich nach hinten in die Küche stürme und sie wutschnaubend ausschalte, bevor ich sie nämlich hochkant aus dem Fenster werfe. So. Schon mal besser. Erst ist noch alles gut. Mit jeder weiteren Stunde nicht abreißenden Gästestroms spüre ich immer stärker eine latente Aggression in mir hochsteigen. PMS hin oder her, ich bin eigentlich ein äußerst gutmütiger und generell eher freundlicher Mensch. Bis ich mal aggressiv werde, muss wirklich so einiges passieren. Erst überlege ich, ob es am Stress liegt, komme dann aber relativ schnell zum Schluss, dass es das Verhalten der Leute ist. Und dass das nicht Aggression ist, was ich spüre, sondern tatsächlich Wut. Ich würde hier nicht mehr stehen, wenn ich meine Miete nicht bezahlen müsste, meinen Chef und meine Arbeitskolleginnen nicht nicht hängenlassen wollen würde. Ich bin den ganzen Sommer kaum und die letzten Wochen überhaupt nicht mehr in Cafés, Restaurants oder Bars gegangen. Nicht aus Angst, sondern weil es sich für mich einfach nicht richtig angefühlt hat. Ich bin weder Virologin noch Politikerin und jeder wird hier seine eigene Meinung haben, aber für mich macht es einfach keinen Sinn, dass all diese Leute jetzt hier abhängen, wenn die Infektionszahlen seit Wochen kontinuierlich steigen und die Bevölkerung schon seit geraumer Zeit dazu angehalten wird, die privaten Kontakte einzuschränken und sich, klar, weiterhin an die Regeln zu halten, es mittlerweile außerdem Maskenpflicht an öffentlichen Plätzen und andere Verschärfungen der Regeln gibt.
Zum letzten Ma(h)l.
Können wir uns nicht mal für eine gewisse Zeit zurücknehmen, mal zurückstecken und auf Dinge verzichten, die uns eigentlich echt wichtig sind und uns Spaß machen, uns gut tun? Und zwar mal nicht nur für uns selbst, sondern für andere Menschen da draußen. Ich frage mich oft, wie das Verhalten in unserer Gesellschaft während dieser Pandemie so aussehen würde, wenn bekannt wäre, dass das Virus für alle Menschen tödlich wäre, egal ob jung oder alt, mit Vorerkrankung oder ohne. Ob die freiheitsliebenden und ach so querdenkenden Jungs und Mädels dann trotzdem noch illegale Parties mit hunderten von Leuten in irgendwelchen Kellern auf der Reeperbahn feiern oder sich politisch hoch engagiert und ohne Maske oder Abstand zu Tausenden in Demonstrationsmärsche reihen. Und panisch die allerletzte Möglichkeit, sich endlich nochmal einen Henkerskäsekuchen plus apokalyptischen entkoffeiniertem Hafermilchflattieee zu gönnen, nutzen, bevor sich die Welt am Tag danach endgültig aufhört zu drehen. Und wir, Gott bewahre, vielleicht nie wieder konsumieren und Spaß haben werden!! Es macht mich wütend und traurig, dass wir als erwachsene Menschen mit Verstand und Moral anscheinend erst offizielle Verbote und Sanktionen brauchen, damit wir uns an Regeln halten, deren Sinn und Zweck sich manchen von uns offensichtlich erst dann erschließt, wenn nur wir persönlich betroffen sind.
Moral vs. Money
Eine paar Stammgäste sitzen seit dem frühen Nachmittag draußen auf den Bierbänken und schütten einen Wein und ein Bier nach dem anderen in sich rein. Der Umsatz steigt. Nice. Der Vorrat im Kühlschrank schwindet dahin und es bedarf keinerlei Einsatz von Charme oder Verkaufsstrategien, um den Damen als nächstes die ganze Flasche Wein anzudrehen statt einzelner Gläser. Ihre männliche Begleitung hat mittlerweile den gesamten Bierbestand von drei verschiedenen Sorten in Luft aufgelöst. Er beschwere sich jetzt lieber mal nicht darüber, wie eklig das eine Bier da schmecke, aber jetzt sei ja auch eh alles egal. Als eigentlich schon längst Feierabend ist und ich am Aufräumen bin, lallen sie mich an: „Ach komm schon, ist ja schließlich der letzte Abend!“ Bevor die Welt sich aufhört zu drehen. Ich bin hin- und hergerissen zwischen meiner arbeitnehmerischen Pflicht und der Unterstützung des Cafés und meines Chefs in Anbetracht des Umsatzes und meiner eigenen Moral und Einstellung bezüglich der aktuellen Lage. Nicht ganz überzeugt entscheide ich mich für einen Kompromiss und gebe noch eine letzte Runde. Als ich die Getränke rausbringe, fließen bei einer der Damen die Tränen. Eine hitzige Diskussion zwischen ihr und einem anderem Stammgast auf der Straße ist in vollem Gange, in der es um die große Angst vor dem Virus der Dame mit dem Wein und der Meinung der anderen, die Single ist, geht, die nur wegen Corona sicher nicht auf ihre Knutschereien verzichten wird. Es geht um Masken und Sicherheitsabstände, Klopapier und Konserven, Merkel und Drosten. Die Ambivalenz in unseren Köpfen, die Scheidung der Geister in unserer Gesellschaft, klein und fein komprimiert auf unserer Biergarnitur.
Single macht was Single will.
Bevor die Diskussion zu eskalieren droht, verabschiedet sich die tränenlose Dame ohne Wein und geht ihrer Wege. Zum nächsten Tinderdate. Die Dame mit Wein geht auf’s Klo und kotzt auf die Klobrille. Ich beschließe, dass die Mittfünziger nun genug getrunken haben und lege ihnen die Rechnung über hundert Euro auf den Tisch. Als sie anfangen wollen, mit mir zu diskutieren, dass sie nie im Leben so viel getrunken haben, muss ich mich schwer zusammen reißen, nicht verbal zu eskalieren und sage ihnen freundlich aber bestimmt, dass ich darüber nicht diskutieren werde, dass ich im Gegensatz zu ihnen sehr genau weiß, was sie alles zu sich genommen haben und dass sie genau diese Summe nun auch bei mir bezahlen werden. Dass es mir herzlich egal ist, wer die Kotze wegmacht, aber dass ich es definitiv nicht sein werde. Und dass dann jetzt auch gut ist. Pre-Apokalypse hin oder her.
Corona-Cornern.
Nachdem ich ihnen schlussendlich fast die Bänke unterm Hintern weggezogen habe, atme ich einmal tief durch, klappe die Schirme ein und schließe draußen alle Tische ab. Für die nächsten vier Wochen. Vorerst. Der Laden neben mir macht auch gerade alles wind- und wasserfest. Ich mache die Abrechnung, räume die Reste aus dem Kühlschrank und schließe die Tür hinter mir. Mache mich im dunklen Nieselregen über die mit Laub bedeckten glitschigen Pflastersteine auf den Weg nach Hause. Die Bars auf St. Pauli und der Schanze sind gut besucht. Vor dem Eingang einer meiner damaligen Stammkneipen überfahre ich fast eine Freundin mit meinem Fahrrad. Ich hätte sie fast nicht erkannt, weil sie gerade mit den Getränken aus der Bar kommt. Sie ist am Theater und hatte zum ersten Mal seit dem Lockdown im Frühjahr wieder angefangen, an einem Projekt zu arbeiten. Erst vor ein paar Tagen hat sie mir davon erzählt, wie gut es läuft und wie froh sie ist, dass es wieder losgeht. Da war der zweite Lockdown noch nicht beschlossen. Ab morgen wäre auch das erstmal wieder erledigt. Was soll’s. Man kann ja eh nichts dran ändern, sagt sie. Hinter ihrer Maske lacht es, aber ihre Augen scheinen nicht zuzuhören. Ich stimme ihr zu.
Was soll ich denn jetzt fühlen?
Wie sagen sie alle so schön auf Repeat? Wir sitzen alle in einem Boot. Jeder hat seine eigene Art, mit der Situation umzugehen, in den letzten Monaten vielleicht bestimmte Strategien entwickelt und seine Sicht auf die Dinge vielleicht mit der Zeit geändert. Oder seine ursprüngliche Meinung noch verstärkt. Fühlt sich für diesen zweiten Lockdown besser gewappnet als für den ersten, weil es nicht mehr ganz so fremd ist. Weil es nicht so unerwartet kommt wie das erste Mal. Weil wir mehr zu wissen scheinen. Wissen, wie wir uns verhalten sollten. Zuversicht entwickelt haben, dass wir es auch dieses Mal schaffen, weil wir es ja auch das letzte Mal geschafft haben. Für andere mögen die aktuellen Entwicklungen, die über den Sommerschlaf der letzten Monate vielleicht kurzfristig an Bedrohlichkeit und Präsenz verloren haben, all die Ängste und Sorgen wieder ans Tageslicht befördern und ihre Hoffnung auf Besserung erst recht zerschlagen. Manche von uns haben Angst davor, zu erkranken oder dass nahe Angehörige krank werden und sterben könnten. Andere bleiben vor dieser Angst unberührt, selbst wenn sie zu einer Risikogruppe gehören. Manche sind überzeugt, dass es sie sowieso nicht trifft.
Jeder anders. Und doch alle gleich.
Wieder andere haben viel eher Angst um ihre Existenz, ihre Jobs, ihre finanzielle Sicherheit. Manchen machen vor allem die langfristigen wirtschaftlichen Folgen Sorge, während andere besorgt auf die aktuellen Ereignisse in unserer Gesellschaft blicken, seien es nun zum wiederholten Male leergehamsterte Regale in den Supermärkten und Leute, die sich in der Schlange an der Kasse bekriegen, weil der eine nicht genügend Abstand hält und der andere es immer noch nicht verstanden hat und seine Maske nur als Mundschutz versteht, oder das momentane und größtenteils eher unerfreuliche Geschehen auf dem Rest unserer Welt. Manche Menschen sind mit Gefühlen der Einsamkeit konfrontiert, andere sind dem Lagerkoller nahe, weil auch Zeit und Raum mit den Liebsten zu viel und eng werden kann. Wohl ein Luxus für all diejenigen, die bereits vor der Pandemie von häuslicher Gewalt oder anderen viel tiefergehenden Problemen betroffen waren. Manche kommen sich näher, andere entfernen sich voneinander. Manche von uns kommen durch die gerade nochmal stattfindende zwangsläufige Entschleunigung des Alltags und des Außens endlich mal runter und genießen die Zeit und Ruhe, während andere genau diese fürchten und die sonst en masse verfügbaren Ablenkungen, mit denen wir uns das Wesentliche oft und gerne erfolgreich vom Leib halten, schmerzlich vermissen. Die Konfrontation mit den eigenen Abgründen bisher erfolgreich vermieden haben.
Die Liste all der verschiedenen Situationen und Umstände, in denen sich jede*r einzelne von uns gerade befindet, all die unterschiedlichen Gedanken, Sorgen, Ängste und Hoffnungslosigkeit, aber auch Ideen, Pläne und Kreativität, Umdenken und Zuversicht, all unsere verschiedenen Sichtweisen, Einstellungen, Entscheidungen und Verhaltensweisen, Bewältigungs- und Vermeidungsstrategien, Rückschläge, Fortschritte und Entwicklungen, könnten unterschiedlicher nicht sein.
Fight. Flight. Freeze.
Manche trinken mehr Wein als sonst, manche stürzen sich in ihre Arbeit, manche schauen lieber keine Nachrichten mehr, während andere den halben Tag recherchieren und vom Hundertsten ins Tausendste kommen, andere schreiben plötzlich ganz viel Tagebuch, gehen wieder regelmäßig joggen oder fangen wieder an zu rauchen, wieder andere verlieren sich im Netflixnirwana, verlieren sich in Verschwörungstheorien oder entdecken plötzlich Stricken, Kiffen und Malen nach Zahlen für sich. Verdrängung, Kompensation, Konfrontation…Wie auch immer wie mit ihr umgehen mögen, wir alle sind zur Zeit mit dieser noch nie dagewesenen Situation konfrontiert und sollten uns gerade deswegen in gegenseitigem Verständnis, Respekt, Empathie und Mitgefühl üben. Unseren Mitmenschen gegenüber. Aber auch uns selbst gegenüber.
Was uns bleibt.
Nicht nur seit Beginn der Pandemie gibt es so vieles, was wir als Menschen nicht unter Kontrolle haben. Keiner von uns wurde um seine Stimme für oder gegen diese weltweite Krise gefragt. Sie ist einfach passiert. Und wie so oft bleibt uns einzig und allein die Freiheit der Entscheidung, wie wir mit all dem umgehen. Während wir uns in unserer individuellen Freiheit durch all die Beschränkungen doch gerade oft so eingeschränkt fühlen. Auch wenn wir nicht immer krampfhaft das Positive im Negativen sehen müssen und man sich gerne auch mal zugestehen darf, etwas so richtig richtig scheiße zu finden, scheint mir diese Entscheidungsfreiheit in der aktuellen Situation doch sehr wichtig und wertvoll.
Wir haben die Freiheit, unsere Gedanken mit anderen Menschen zu teilen.
Wir haben die Freiheit, unsere Sorgen auszusprechen und sie dadurch erträglicher zu machen.
Wir haben die Freiheit, die Ängste unserer Mitmenschen ernst zu nehmen und zu akzeptieren.
Wir haben die Freiheit, unsere Sicht auf die Dinge so zu ändern, dass es uns damit besser geht.
Wir haben die Freiheit, nicht jeden Tag optimistisch sein zu müssen.
Wir haben die Freiheit, trotzdem zuversichtlich sein zu dürfen.
Wir haben die Freiheit, füreinander da zu sein. Auch mit Abstand oder virtuell.
Wir haben die Freiheit, uns richtig gut fühlen zu dürfen. Trotz und mit allem.
Wir haben die Freiheit, unsere Zwischenmenschlichkeit nicht zu verlieren.
Und wir haben auch die Freiheit, uns zweimal zu überlegen, ob es der Gesamtsituation zuträglich ist, wenn wir dem Typen im Supermarkt prophylaktisch instant mal lieber auf die Fresse hauen, weil er uns die letzte Packung Klopapier vor der Nase weggeschnappt hat.
Ich muss an die Dame mit dem Wein und den Tränen denken. Ich hoffe, dass ihr Kater morgen nicht so schlimm wird.
Und dass sie nicht mehr so lange traurig sein muss.