Sternschnuppenschauder.

Bildquelle: Lisa C. Waldherr

Ich liege mit überkreuzten Beinen auf dem Rücken und starre in einen Himmel voller Sterne. Bis auf ein paar kleine Steinchen ist der Sand unter mir weich. Die Wellen rollen leise rauschend ans Ufer. Die Luft ist immer noch warm und riecht nach Sonnencreme und Lagerfeuer. Ich kann die Milchstraße sehen. Fühle mich unendlich winzig und unbedeutend. Irgendwie ein schönes Gefühl. Momentaufnahme eines gedankenleeren Raums. Und dann fangen sie plötzlich an zu fallen.

Lass mal wieder tanzen gehen!

Schwupps, sind zwei Monate vergangen, seitdem ich den letzten Blogartikel veröffentlicht habe. Verrückt. Eine so lange Pause zwischen den Beiträgen gab es schon sehr lange nicht mehr. Nachdem kürzlich immer mehr Beschwerden meiner Leserinnen und Leser eintrudelten und es auch mich wieder ordentlich in den Fingern juckt, tanzen wir heute also endlich mal wieder eine Runde zwischen den Polen! Schluss mit der Sommerpause!

Sowohl.

Und um die wiederkehrenden Fragen zu beantworten: Ja, die lange Funkstille lag unter Anderem daran, dass es mir zwischenzeitlich ziemlich schlecht ging und ich weder Raum in meinem Kopf noch genug Antrieb und Kraft zum Schreiben hatte. Daran, dass ich die Energie, die mir nach der alles in Schatten stellenden Traurigkeit, dem stundenlangen Heulen jeden Tag und der Schlaflosigkeit noch blieb, brauchte, um arbeiten zu gehen und das Nötigste im Alltag zu erledigen. Mich darauf zu konzentrieren, nicht noch tiefer zu fallen. Die Ziellinie nicht zu überschreiten. Zu einem Ziel, das kein Ziel ist.

Als auch.

Aber auch daran, dass es mir zwischenzeitlich so richtig gut ging und es verdammt nochmal Wichtigeres in diesem Moment gab, als an meinem Laptop zu sitzen und über meine bipolare Störung zu schreiben. Nacktbaden im Meer zum Beispiel. Kilometerlang am Strand spazieren gehen und Robben treffen. So lange am Lagerfeuer sitzen, bis es wieder hell wird. Eiskaffee in rauen Mengen konsumieren. Salzkristalle auf meiner Haut beobachten. Kiten gehen und mich zuerst freuen, wie toll ich das doch schon kann, um dann eine Sekunde später in so einem hohen Bogen auf die Fresse zu fliegen, dass ich danach stundenlang mein Brett suchen muss und diesen beschissenen Sport verfluche. Mir schwöre, dass ich ab sofort lieber stricken lerne. Um das blöde Brett irgendwann zu finden, direkt zurück aufs Wasser zu gehen, um mich so frei und unbeschwert zu fühlen, wie es nur in wenigen Situationen möglich ist. Mit Freunden so viel lachen, dass ich mir fast in die Hose pinkle. Im Zelt über das Leben philosophieren, bis wir mitten im Gespräch einschlafen.

Immer Meer. Von Allem.

Was von all dem war nun depressiv? Was hypoman? Was davon symptomfrei? Wann war ich „einfach nur“ aus gutem Grund traurig, so wie es jede*r andere in der selben Situation vielleicht auch gewesen wäre? Wann war ich einfach nur voller Leichtigkeit und Lebensfreude, weil es mir gut ging, ich keinen Stress hatte, schöne Dinge erlebt und Zeit mit den richtigen Menschen verbracht habe? Inwiefern standen das Maß meiner Traurigkeit oder Freude in Relation zu den Ereignissen, aus denen diese Emotionen hervorgegangen waren? Ich weiß, dass ich immer etwas trauriger bin als die Menschen in meinem Umfeld, wenn ich traurig bin. Und immer ein bisschen glücklicher, wenn ich glücklich bin. Dass ich selten eine Nulllinie fahre. Sie insgeheim verachte. Sie mir trotzdem manchmal herbeisehne, wenn ich gerade jenseits von Gut und Böse unterwegs bin. Und dass ich nicht nur in Bezug auf meine Stimmungen extrem sein kann, sondern auch hinsichtlich diverser Emotionen und Lebensbereiche. Alles schon gesehen, alles schon gehabt. Manchmal ist das gut, manchmal weniger.

Henne? Ei?

Müssen wir als Bipolare wirklich immer alles pathologisieren? Müssen wir uns jedes Mal fragen, ob wir uns jetzt gerade ober- oder unterhalb der Nulllinie befinden? Ob das gerade unser depressives oder hypomanes (manisches) Ich ist? Oder das Ich dazwischen? Welches ist das „richtige“, das „echte“ Ich? Gibt es das überhaupt? Sind nicht alle davon echt und richtig? Alles Teil von uns? Ist das da gerade ein Frühwarnzeichen? Und wenn ja, müssen wir dann sofort handeln und gegensteuern oder haben wir noch etwas Spielraum? Ist es wichtig und gesund, abzugrenzen, was von all dem einfach nur wir selbst sind und was davon die Krankheit? Können wir das überhaupt trennen? Viel wichtiger noch: Müssen wir das? Wir könnten diesen Fragenkatalog noch beliebig lange weiterführen fürchte ich…

Abwechslungsreich routiniert?

Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel in so einem Leben in so kurzer Zeit passieren kann. Meistens empfinde ich das tatsächlich als sehr schön, weil mein Leben so bisher noch nie langweilig war und es vermutlich auch nie sein wird. Andererseits überschlagen sich die Ereignisse manchmal so schnell, dass Herz und Kopf gar nicht mehr hinterherkommen und ich nicht Schritt halten kann. Das strengt dann ganz schön an. Es ist eine mir wohlbekannte Hass-Liebe. Einerseits finde ich zu straffe Routinen und eintönigen Alltag total ätzend, andererseits brauche ich, ob ich das will oder nicht, eine gewisse Kontinuität in meinem Leben, um langfristig stabil zu bleiben. Eine gewisse Regelmäßigkeit. Wenn ich mir meine letzten Jahre allerdings so anschaue, findet sich darin tatsächlich herzlich wenig davon. Und trotzdem ist es irgendwie gegangen. Manchmal mehr, manchmal weniger schief. Wie bei so vielen anderen Dingen auch eine Frage des goldenen Mittelwegs. Königsdisziplin.

In den letzten Wochen war mal wieder alles dabei. Eine Achterbahnfahrt der Gefühle vom Allerfeinsten. Hatte mich eigentlich schon gefreut, dass, nachdem sich die Corona-Lage etwas beruhigt hatte, vielleicht etwas Ruhe einkehrt. Aber da war es während Corona deutlich ruhiger, muss ich gestehen.

Auch ohne Boden kann man stehen.

Vor ein paar Wochen ging es mir so schlecht wie schon seit knapp zwei Jahren nicht mehr. Vor allem aber so lange schlecht wie schon seit Langem nicht mehr. Eine nicht zu verachtende depressive Episode, die ohne große Vorwarnung über mich hereinbrach und mir einmal schnell den Boden unter den Füßen wegzog. Ich habe mal wieder festgestellt, dass jede Phase anders verläuft. Sowohl die depressiven als auch die hypomanen. Keine ist wie die andere. Da bin ich wohl nicht die einzige, die keine Routinen mag. Der Nachteil daran ist, dass man aus jeder Phase seiner Meinung nach ein Stück schlauer herausgeht und sich gewappnet fühlt für die nächste. Man lernt ja jedes Mal dazu, genau. Und außerdem entwickeln sich Krisenfähigkeit und Resilienz immer nur durch Krisen selbst. Jede Krise macht uns stärker, die schweren Zeiten sind es, an denen wir wahrhaftig wachsen. Blaaaaaa. Würg.

Nach Scheiße kommt Geil!

Nachdem wir all diese Kalendersprüche brav verinnerlicht haben freuen wir uns also, dass wir, ganz toll, endlich mal wieder so richtig durch die Scheiße gegangen und dabei so viele tolle neue Dinge dazugelernt haben und womöglich sogar noch viel schlauer sind als der ganze blöde Rest der Welt. Tja. Und dann stellen wir fest, dass keine Phase der vorherigen gleicht. Und dass diese Phase ganz andere Herausforderungen mit sich bringt als die letzte. Und die nächste. Klar, es gibt Symptome, die jedes Mal am Start sind. Stärker oder schwächer ausgeprägt. Die wir zumindest schon einigermaßen kennen, nicht komplett von ihnen plattgewalzt werden und in einem gewissen Maß mit ihnen umgehen können. Bei mir sind das in den depressiven Phasen vor allem Traurigkeit, Antriebs- und Energielosigkeit. Damit kann ich mittlerweile ganz gut umgehen, manchmal besser, manchmal schlechter. Aber meistens besser.

Augen…

Ich weiß, dass meine Traurigkeit in depressiven Episoden ihre Daseinsberechtigung auch ohne Grund bekommt. Dass es nicht hilft, gegen sie anzukämpfen, weil es sie noch schlimmer machen würde. Dass Verdrängen oder Ablenken manchmal helfen und auch richtig sind. Aber ich weiß auch, dass ich den schwarzen Umhang am schnellsten wieder abstreifen kann, indem ich mich ihrer vollen Wucht stelle und sie „einfach“ aushalte. In einem Abwasch sozusagen. Kurz und knackig. Dass auch das, was ich verdränge oder von dem ich mich vielleicht eine Zeit lang, manchmal überlebensnotwendiger Schutzmechanismus unseres Geistes, erfolgreich ablenken kann, konsequent irgendwann seine Verarbeitung einfordern wird.

auf…

Ich weiß, dass ich nicht mehr Antrieb bekomme, indem ich mich jeden Tag dafür fertig mache, dass ich keinen Antrieb habe und dass ich ja nichts hinkriege und mich mit psychisch gesunden Menschen und mir selbst in symptomfreien, „gesunden“ Phasen vergleiche. Ein Vergleich, bei dem ich in einer depressiven Phase natürlich nur verlieren kann. Ganz abgesehen davon, dass Vergleiche, egal mit wem, selten eine gute Idee und auch nicht als Selbstwertbooster bekannt sind. Aber ich weiß, dass es in diesen Zeiten der Antriebslosigkeit hilft, nicht so streng und stattdessen lieber nachsichtig mit mir zu sein. Wie ich es auch zu allen mir wichtigen Menschen wäre. Zu akzeptieren oder zumindest hinzunehmen, dass das nun mal eines der Symptome einer Depression ist und nicht bedeutet, dass ich generell nichts „hinbekomme“. Aber dass ich deswegen eben gerade in diesem Moment nicht so viel „hinbekomme“, wie ich das gerne würde. Dass das okay ist. Dass es auch wieder anders werden wird. Dass ich dann eben die Dinge, für die es gerade nicht reicht, wenn möglich verschieben oder zumindest auf die vorerst Wichtigsten reduzieren kann. Dass unser Wert als Mensch nicht darauf basieren sollte, was wir „schaffen“ und „erreichen“, auch wenn uns unsere Gesellschaft etwas anderes suggerieren mag. Und: Dass wir abgesehen davon vielleicht nicht immer nur „hinbekommen“, „schaffen“, „erledigen“, „produktiv sein“ müssen. Aber dieses Thema steht nochmal auf einem ganz anderen Blatt geschrieben und verdient in Zukunft einen eigenen Blogbeitrag. Ich muss an die Aussage einer Ärztin in der Klinik damals denken: „Vielleicht reicht es ja auch erstmal, wenn Sie es schaffen würden, nicht immer alles schaffen zu wollen.“

…und

Ähnlich verhält es sich auch mit der Energielosigkeit, die oft zwangsläufig mit der Antriebslosigkeit einhergeht. Natürlich ist die eben beschriebene Nachsicht mit diesem Zustand als Basis eines achtsamen und freundlichen Umgangs mit sich selbst eine sehr gute Grundlage. Und trotzdem habe ich über die Zeit für mich festgestellt, dass Aktivität oft auch durch Aktivität wiederkommen kann, wenn auch nur im ganz kleinen Rahmen. Dass es mich, bei aller Liebe zu Achtsamkeit und Akzeptanz, vielleicht sogar weiterbringt, wenn ich mich, auch wenn es noch so schwer fällt, aufraffe und eine Runde spazieren gehe. Keine sportliche Höchstleistung, keine Schnelligkeit, keine Strecke (außer mir ist danach und ich habe die Kraft). Einfach nur in Bewegung kommen, egal wie und egal, wie lange. Ich kann da nur für mich sprechen, aber Bewegung hilft immer immer immer.

…durch.

Diese Phase ging ohne Panikattacken über die Bühne, dafür aber mit einer überwältigenden Traurigkeit, wie ich sie lange nicht erlebt habe. Vor allem mit Sturzbächen von Tränen, die ich nie für möglich gehalten hätte. Tränenkanalsanierung sozusagen. Ist bestimmt auch mal gut. Trotzdem reichte der Antrieb noch, um morgens aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Was ich auch schon deutlich anders erlebt habe. Ich sah zwar jeden Tag aus wie Quasimodo mit Bindehautentzündung und hätte mir gewünscht, meinen Mundschutz einfach zur Komplettgesichtsmaske umzufunktionieren, aber ich war froh, dass ich mir durch meine Arbeit, die ich sehr sehr gerne und mittlerweile auch komplett routiniert mache, eine gewisse Struktur und Ablenkung in dieser Zeit aufrechterhalten konnte. Weitergeheult habe ich dort trotzdem. In Etappen. Heimlich in der Küche. Man kann nicht alles haben.

Alles eine Betrachtung…

Mittlerweile sehe ich jede meiner Phasen, egal ob depressiv oder hypoman, als Erweiterung meines Erfahrungsschatzes mit dem Umgang meiner Erkrankung an. Meist harte Schule, aber hat ja auch keiner behauptet, dass Schule Spaß macht. Ich packe weiter fleißig meinen Notfallkoffer…und nehme alles mit, von dem ich weiß, dass es mir in meinen Phasen weit jenseits der Nulllinie helfen kann und in der Vergangenheit auch schon getan hat. Und auch der Koffer wird dann mit seinen Aufgaben wachsen. Genau so wie wir. Und auch das ist ein Kalenderspruch, der das Potenzial hat, uns im Strahl kotzen zu lassen, aber here it goes anyway:

Es geht nicht darum, wie oft wir fallen, sondern darum, dass wir immer wieder aufstehen.

…der Frage?

Mittlerweile sind so viele Sternschnuppen vom Himmel gefallen, dass ich den Überblick verloren habe.

Bedauernswerter- und unromantischerweise wissen wir ja leider mittlerweile, dass Sternschnuppen keine vom Himmel fallenden Sterne sind. Sondern winzig kleine Teilchen oder Steinchen aus unserem Sonnensystem. Und trotzdem rührt ihre Schönheit, der leuchtende Lichtschweif, den wir manchmal von der Erde aus sehen können, doch daher, dass sie mit unvorstellbarer Geschwindigkeit durch die Erdatmosphäre fallen, wodurch Reibung erzeugt wird und daraus wiederum ihr Leuchten entsteht.

Langsam wird mir kalt. Ich zünde mir noch eine Zigarette an und blase den Rauch ins Halbdunkel der Nacht. Da. Schon wieder eine.

Wenn selbst so etwas Schönes wie eine Sternschnuppe erst fallen muss, um zu leuchten…

… dann gehört Fallen vermutlich einfach dazu.

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