Wo die Hoffnung hinfällt…

Ich kann es echt nicht fassen, dass mein letzter Eintrag schon wieder über zwei Wochen her ist. Die Welt steht still, wenn auch schon etwas weniger still als noch vor zwei Wochen. Auch meine Inspiration und Motivation zum Schreiben standen still. Dabei hatte ich doch eigentlich so viel Zeit. Zeit, die gefühlt rast wie selten zuvor.
Eine Zeit, die gerade keine einfache ist. Wie über Nacht kippte meine Stimmung plötzlich ins Gegenteil und fuhr all meine Euphorie, den Optimismus und die Gelassenheit der letzten Wochen ohne jegliche Vorwarnung gegen die Wand. Bumm.
Shitstorm ohne Klopapier
Da es dieses Mal keinerlei Frühwarnzeichen gab, auf die ich hätte reagieren können, überraschte mich der Shitstorm dieses Mal ohne eingepackten Regenschirm oder Klopapier. Gibt’s eh immer noch nicht bei dem Supermarkt vor meiner Tür. Wie immer wollte ich erstmal herausfinden, ob es denn überhaupt einen Auslöser gab oder ob die Welle einfach so herangerollt gekommen war. Wie sie das so oft tut. Wellen entstehen ja schließlich auch einfach so mal ohne dass ein großes Schiff heranschippert oder ein Stein ins Wasser geworfen wird. Oder nicht? Gibt es vielleicht immer einen Auslöser? Das könnte man mal rausfinden.
Auch wenn ich die aktuelle Situation die letzten Wochen nicht verleugnet hatte, so habe ich sie doch definitiv ab und zu einfach verdrängt. Und dazu musste ich mich nicht mal wirklich anstrengen, denn es gab andere Dinge in meinem Leben, die es ohne mein Zutun geschafft hatten, Sorgen, Ängste und Ohnmachtsgefühle vorerst auf’s Abstellgleis zu befördern oder sogar gar nicht erst aufkommen zu lassen. Wenn sie sich dann doch mal an meine Fersen hefteten, gelang es mir bis dato immer, trotz allem positiv zu bleiben. Auch wenn alles gerade, wenn ich mal ganz ehrlich zu mir selbst war, eigentlich einfach ganz schön beschissen war. Trotzdem noch das kleinste positive Detail im großen Ganzen zu finden. Ich erinnere an das goldene Maiskorn im Kackehaufen: https://tanzzwischendenpolen.com/2020/03/23/blogartikelreihe-psychisch-krank-in-zeiten-von-corona-teil-2/. Ob nun ein automatischer Selbstschutzmechanismus des Geistes oder tatsächlich eine authentische Annahme und Akzeptanz der prekären Lage, ich ging der ein oder anderen Freundin durch meinen grenzenlosen Optimismus in den letzten Wochen glaube ich ganz schön auf den Sack. Mir selbst irgendwie gar nicht. Eine von ihnen meinte, dass sie sich einfach gerade nicht mehr einreden will, dass ja alles auch was Positives hat. Ich verstand sie in dem Moment nicht, weil ich der Meinung war, dass es völlig in Ordnung sei, sich auch mal für eine Weile etwas schön zu reden. Sofern es einem damit besser ging, versteht sich. Sie war damals schon an einem Punkt, den ich etwas später erreichen sollte. Jetzt.
Eine andere gute Freundin sagte zu mir, dass positives Denken nur so lange gesund sei, wie eine gewisse Leichtigkeit herrsche. Keine Zwanghaftigkeit. Wie Recht sie hat.
Lief bei mir.
Ich denke, es fing damit an, dass ich seit sechs Wochen auf die Bewilligung meiner Leistungen vom Jobcenter wartete. Über Geld redet man nicht, schon gar nicht auf einer öffentlichen Plattform, zu der jeder Zutritt hat? Finde ich nicht. Da unser Chef direkt im März Kurzarbeit für uns angemeldet hatte und ich normalerweise sowieso schon Teilzeit arbeite, das gesamte Trinkgeld und auch die drei Hunde, mit denen ich mir sonst auch noch einiges an Geld dazu verdiene, auf einmal wegfielen, reichten die 60 % meines bisherigen Gehalts natürlich vorne und hinten nicht aus. Nach meiner letzten Begegnung mit dem Jobcenter, als ich zusätzlich zu meinem Krankengeld vor, während und nach meinem Klinikaufenthalt 2017 bis Anfang 2018, Sozialleistungen hatte beantragen müssen, hatte ich gehofft, mich damit nicht mehr so bald beschäftigen zu müssen. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis ich mich diesbezüglich finanziell wieder gut aufgestellt hatte. Alles parallel zur gesundheitlichen Wiederaufstellung. Erst vor ein paar Monaten war endlich der Punkt erreicht, an dem eigentlich alles lief und passte: Teilzeitjob im Café plus gutes Trinkgeld, ein gelegentlicher Minijob auf Veranstaltungen und das Ausführen von drei Hunden, nebenher mein Studium. Auch wenn ich immer noch nur einen verschwindend kleinen Teil von den Gehältern in meinem Umfeld verdiente, zur Verfügung hatte, für mich war es so viel wie schon seit Langem nicht mehr. Da ich mich an das Wenige gewöhnt und meinen Lebensstil über die Zeit dementsprechend angepasst hatte, war es mehr als genug. Ich musste mir endlich keine Sorgen mehr machen, keine Preise mehr bei Penny vergleichen und war mehr als zufrieden und glücklich damit. Ich brauche nicht viel. Konnte sogar immer wieder was zur Seite legen. Für einen Urlaub, der nicht stattfinden würde.
Bürokratie, du Bitch.
Denn dann kam Corona. Alle drei Jobs auf einmal weg. Das Konstrukt, dessen Aufbau so viel Zeit gebraucht und mich vor allem in schlechteren Phasen überdurchschnittlich viel Energie gekostet hatte, innerhalb von einem Tag in sich zusammengefallen. Tja. So schnell kann das mal gehen. Und obwohl ich weiß, dass es so unfassbar vielen Menschen gerade ähnlich oder genau so geht und ich sehr dankbar und froh bin, dass diese Sorgen und Auswirkungen nicht noch existenzieller sind, wie beispielsweise durch einen eigenen Laden, ist das schon auch trotzdem heftig kacke.
Das äußerst zuvorkommende Jobcenter hatte vor sechs Wochen mit vereinfachten und unbürokratischen Anträgen zu Beginn der Krise geworben. Ich glaube, ich habe noch nie Unbürokratischeres erlebt. Über Wochen hinweg bekam ich regelmäßig Briefe mit diversen Aufforderungen zur Nachreichung von Unterlagen, von denen anfangs nie die Rede gewesen war. Der neue Monat kam, die Miete wurde fällig, Essen wäre auch nett. Ja, ich habe das Glück, Familie und Freunde zu haben, die mich im Notfall immer unterstützen würden. Nicht nur mental, sondern auch finanziell. Ein Luxus, den nicht jeder hat und den ich über alle Maßen zu schätzen weiß. Für den ich sehr sehr dankbar bin. Und ich weiß von vielen anderen Betroffenen, die gerade, auch nach jahrelanger Selbstständig- und Unabhängigkeit plötzlich wieder darauf angewiesen sind. Auch Menschen jenseits der 30 oder 40. Erwachsene Menschen, die bis jetzt mit beiden Beinen im (Berufs-) Leben standen. Und trotzdem ist es kein gutes Gefühl. Exponentiell schlechter wird das Gefühl, wenn Woche um Woche trotz täglichen Anrufen und der dringlichen Bitte nach Priorisierung des Antrages aufgrund nicht mehr gewährleisteter Sicherung des Lebensunterhalts immer noch kein Geld auf dem Konto ist. Freunde und Bekannte von mir warteten teilweise noch länger auf spezielle Corona-Schutz-Schirme oder dergleichen. Von wegen Soforthilfe. Da mögen jetzt Stimmen laut werden, dass wir mal dankbar und froh sein sollen, in einem Sozialstaat wie Deutschland zu leben und dass es in anderen Ländern ganz anders aussähe. Das ist sicher richtig. Trotzdem fühlt man sich in einer solchen Situation dann doch ganz schön alleine gelassen. Und zwar zu Recht.
Ich sehe was, was du nicht siehst und das sind meine Bedürfnisse.
Ich habe Jahre gebraucht, um zu verstehen und zu akzeptieren, dass manche Dinge, die psychisch stabile und gesunde Menschen locker wegstecken mögen, für mich Stressoren sind, die Krankheitsphasen, in diesem Zusammenhang vor allem depressive, auslösen können. Die Liste ist lang. Das können Überarbeitung und zu starke Belastung über einen längeren Zeitraum, zu wenig Zeit und Ruhe für mich, sozialer Overload, Hektik, Lärm und diverse andere Überstimulation, zu schnelle und zu viele Ortswechsel, Disharmonie in zwischenmenschlichen Beziehungen, fehlende Tagesstruktur, zu wenig Bewegung, unregelmäßig und zu wenig essen, schlechter oder zu wenig Schlaf sein. Existenzielle und finanzielle Sorgen sind ganz vorne mit dabei und ich kenne das bereits aus der Vergangenheit.
Stress mich nicht!
Die Forschung, die sich mit den Ursachen für bipolare Störungen beschäftigt, behandelt verschiedene Bereiche, unter Anderem: Genetische Faktoren, Biologische Faktoren, körperliche und auf Medikamente bezogene Ursachen sowie psychosoziale Faktoren. Bei letzteren spielt Stress eine tragende Rolle. Während psychosoziale Belastung und Stress eine bipolare Störung auch erstmalig auslösen können, ist bekannt, dass bipolar erkrankte Menschen sehr viel sensibler (Anmerkung: Oft treten Hochsensibilität und bipolare Erkrankungen gemeinsam auf) auf psychosozialen Stress wie Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, Konflikte in der Partnerschaft, Wohnungswechsel etc. reagieren (vgl. https://dgbs.de/bipolare-stoerung/ursachenhttps://dgbs.de/bipolare-stoerung/ursachen). Hier ist vor Allem auch das so genannte „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“ zu nennen, welches ursprünglich von Bonnie Spring und Joseph Zubin auf die Schizophrenie bezogen und darauf basierend von DGBS-Mitglied Wilhelm Reher auf das Feld der bipolaren Störung ausgeweitet und entsprechend modifiziert wurde. Das Modell macht deutlich, wie äußere psychische Belastungen oder Stress als äußere Faktoren gepaart mit einer gewissen Vulnerabilität (Verletzlichkeit, erworben oder angeboren) das (Wieder-)Auftreten von Krankheitsepisoden begünstigen kann. Für Interessierte, Betroffene oder Angehörige lohnt es sich auf jeden Fall, dieses Modell einmal anzuschauen: https://dgbs.de/fileadmin/cust/dgbs-materialien/VS_Modell_Reher.pdf
Die Anderen…
Obwohl ich um den enormen Einfluss solcher Stressoren auf das Krankheitsbild der bipolaren Störung weiß und mich mittlerweile vor allem aus persönlicher Erfahrung bestens mit dieser Thematik auskenne, vergleiche ich mich in solchen Situationen trotzdem immer noch mit psychisch komplett gesunden Menschen. Vor allem, wenn ich über einen längeren Zeitraum stabil war. Mir die Krankheit nicht jeden Tag einen Spiegel vorgehalten hat. Ich mich gut, vielleicht sogar sehr gut und völlig „normal“ gefühlt habe. Ich hadere immer wieder damit, dass mich Dinge und Ereignisse, von denen ich weiß, dass ich sie unter „normalen“ Umständen locker bewältigen könnte und schon ganz andere Dinge in meinem Leben geschafft habe, in schlechten Phasen plötzlich komplett überfordern. Dass ich sie nicht „einfach“ direkt angehe und erledige. So wie „andere Leute“. Dass ich nicht „einfach“ so diszipliniert, produktiv und organisiert bin wie „andere Leute“. Dass ich nicht „einfach“ weiter funktioniere. „Einfach“ wegstecke. „Einfach“ mache. Dass mich stattdessen eine Lethargie überfällt, die ich mir selbst als Faulheit diagnostiziere und mich dafür selbst abwerte. Was sollte es sonst sein? Ich könnte mich doch „einfach“ mal zusammenreißen. Alles Dinge, die ich selbst niemals zu einer Person sagen würde, von der ich weiß, dass sie gerade in einer Depression steckt. Aber nein, mit mir selbst bin ich lieber streng und stelle frustriert fest, dass ich mich eben nicht einfach zusammenreißen kann und rutsche dadurch immer tiefer in die depressive Abwärtsspirale der negativen Gedanken und Selbstvorwürfe.
…sind und bleiben die Anderen.
Ich weiß, der Rollstuhl ist als Beispiel langsam ausgelutscht, aber ich finde ihn einfach passend. Welcher Mensch, der im Rollstuhl sitzt oder vielleicht auch „nur“ ein gebrochenes Bein hat, würde sich ernsthaft mit einem Menschen mit zwei gesunden Beinen vergleichen und sich selbst abwerten, sich als Versager sehen, weil er die Hundert Meter nicht in der gleichen Zeit laufen kann wie der andere?
Es gibt verschiedene Formen der Lethargie. Die Lethargie, die halt mal kommt und genau so schnell auch wieder geht. Die jeder mal hat. Die gesund und auch ab und an wichtig ist. Uns zwingt, mal runter zu fahren und danach wieder voll durchstarten zu können. Und die Lethargie, die komplett von uns Besitz ergreift und zu vollkommener Lähmung und Handlungsunfähigkeit führen kann. Die depressive Lethargie. Ich kenne beide Formen. Es ist unmöglich, sie zu verwechseln.
Wo ist der Anker hin?
Nach knapp zwei Wochen im Exil an der wunderschönen Nordseeküste, meiner zweiten Heimat, menschenleeren Stränden und Wäldern, Ruhe, Natur, frischer Luft, Joggen, Fahrradfahren und gutem Essen sitze ich im Zug nach Hamburg. Meiner seit über sechs Jahren ersten Heimat. Meiner so geliebten Wahlheimat. Es ist das erste Mal in dieser gesamten Zeit, dass es mich nicht wie magisch dorthin zurück zieht. Meistens reichen nur ein paar Tage, selbst nach dem wunderschönsten Urlaub packt mich früher oder später die Sehnsucht nach dem schönen Perlchen. Ich habe meine zwischenmenschlichen Kontakte seit dem Lockdown brav auf das Mindeste reduziert und meine engsten Freunde in Hamburg seitdem nicht gesehen. Sie fehlen mir. Und ich muss ein paar wichtige Dinge organisieren. Ich steige aus dem Zug.
Und ich fühle mich komisch.