Kaltfront.

Bildquelle: Lisa C. Waldherr

Ich wache auf und noch bevor ich die Augen öffne, weiß ich, dass sie da ist.

Einer dieser Tage…

Man kann es gar nicht so genau beschreiben, aber etwas ist anders. Der ganze Körper fühlt sich anders an. Es fängt schon beim Aufwachen an. Der Geist steckt noch in einer Brühe von wirren Träumen fest, die wie Treibsand an ihm kleben und unaufhaltsam nach unten ziehen. Ich will meine Augen nicht öffnen. Den Tag nicht beginnen. Der Haken an der Sache ist, dass es den Tag leider überhaupt nicht interessiert, ob ich ihn gerade beginnen will oder nicht. Er wird trotzdem durchlebt werden müssen. Mit all den Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen, von denen ich weiß, dass er sie heute mit sich bringen wird. Ob ich das will oder nicht. Mindestens zwölf Stunden aus klebrigem Kaugummi, die vor mir liegen. Erfreulicherweise „nur“ zwölf, da es bereits nach 10 Uhr ist, was ich nach einem kurzen Blick auf mein Handy feststelle. Augen sind also schon mal offen. Erste Herausforderung erfolgreich gemeistert!

Reicht dann aber eigentlich auch schon wieder. Ich deaktiviere den Flugmodus auf meinem Handy, es trudeln ein paar Nachrichten ein, ein verpasster Anruf, eine Sprachnachricht. Alles zu viel. Ohne genauer auf irgendetwas davon einzugehen, schalte ich mein Handy komplett aus. Ich kann gerade nichts aufnehmen. Kann mich nicht erklären, kann mich nicht verstellen, kann niemandem zuhören. Ich bin mit einem Freund verabredet und habe gesehen, dass er mir eben geschrieben hat. Ich sollte ihm absagen, aber dazu müsste ich mein Handy wieder anmachen. Allein die Vorstellung macht mich unendlich müde.

Ein. Aus. Ein. Aus.

Die Vorhänge sind noch zugezogen, aber der Stoff ist sehr dünn und die Sonne kämpft sich durch. Durchflutet mein Zimmer mit hellem Morgenlicht. Naja. Vielleicht eher Vormittagslicht. Wie lange ich den Frühling herbeigesehnt habe! Endlich ist er da. Es könnte mir nicht gleichgültiger sein. Während es in meinem Zimmer immer heller wird, verdunkelt sich mein Innerstes immer mehr. Ich drehe mich mit dem Kopf zur Wand und ziehe mir meine Biberbettwäsche bis über die Nasenspitze. Eigentlich ist mir darunter immer viel zu warm, ich benutze sie aber trotzdem gerne, weil sie so schön kuschelig ist. Heute wärmt sie mich nicht so wie sonst.

Ich weiß, dass es nur schlimmer werden wird, wenn ich weiter hier rumliege. Wie auf einer Aschenbahn drehen finstere Gedanken Runde um Runde, nur um immer wieder den gleichen Startpunkt zu erreichen und festzustellen, dass sich wieder nichts verändert hat. Ich versuche es mit Atmen, das funktioniert oft. Unseren Atem tragen wir ja praktischerweise immer bei uns. Nicht umsonst erfreuen sich Achtsamkeitstechniken, spezielle Atemübungen und dergleichen schon seit geraumer Zeit stets zunehmender Beliebtheit. Fragt sich, ob sie genau so beliebt wären, wenn wir einfach öfter mal schon etwas früher eine kleine Pause einlegen oder durchatmen würden anstatt zu tun, zu rennen und zu schnaufen, bis wir so gestresst, erschöpft und überfordert sind, dass wir hektisch und in der Hoffnung auf schnellstmögliche Besserung direkt einen überteuerten Achtsamkeitskurs oder ein Yoga-Retreat (nur für ein Wochenende versteht sich) buchen. Damit es uns ganz schnell wieder besser geht, damit wir genau so bald wieder rennen und schnaufen können.

Ich atme ein, meine Lunge beginnt sich mit Luft zu füllen. Weiter komme ich nicht. Auch dieses Phänomen ist mir nicht neu. Ein imaginärer Felsbrocken (oder ist es eher ein Haufen Scheiße?) liegt schwer auf meiner Brust und drückt. Macht alles eng. Mein Herz klopft schneller als sonst. Noch rast es nicht, aber ich höre es als dumpfes Pochen in meinen Ohren. Da es mit dem “ Einfach mal tief durchatmen“ ja leider nicht so klappen mag gerade, versuche ich wenigstens einigermaßen regelmäßig und ruhig zu atmen, um das latente Gefühl von Panik, das in mir aufsteigt, in Schach zu halten. Bevor sie mich überrollt.

Auf! Stehen.

Ich nehme meine ganze Kraft zusammen und stehe auf. Vielleicht ist es gut, dass ich gleich arbeiten muss. Vielleicht lenkt das ein bisschen ab. Manchmal tut mir Ablenkung in solchen Phasen gut. Befinde ich mich allerdings gerade im Auge des Sturms, dem Epizentrum der Depression, kann so etwas wie Arbeit, vor allem mit Stress verbunden, auch das genaue Gegenteil bewirken, unendlich quälend und fast unüberwindbar anstrengend sein. Konzentration, wenn auch nur auf Kleinigkeiten, ein Ding der Unmöglichkeit. Allein bevor ich das Haus verlasse, schließe ich drei Mal die Tür nochmal auf, hole nochmal etwas, um auf dem letzten Treppenabsatz festzustellen, dass ich das eigentlich Wichtigste vergessen hab. Mein Essen, das ich tatsächlich ausnahmsweise wirklich mal vorgekocht hatte. Krass wie ich mein Leben im Griff habe! Ist aber auch egal. Hab eh keinen Hunger. Mir ist schlecht.

Zu laut. Zu viel. Zu koffeinfrei.

Ich bin ganz alleine im Café. Kein einziger Gast. Bevor sich meine Erleichterung über Corona breitmachen kann, kommen zwei Mütter mit ihren kleinen Kindern durch die Ladentür, die die nächsten drei Stunden an ihrem beschissenen hipster oatly-Hafermilch-Flat White, koffeinfrei natürlich, schlürfen werden, während ihre kleinen Augensterne in euphorischer Endlosschleife die Blechdose aus unserem Spielzeugregal quer durch das Cafe werfen. Aggression steigt in mir hoch. Und zwar rasant. Das Scheppern der Blechdose vereint sich mit dem Gekreische des Nachwuchses, der mich irgendwie an Schranz aus einer vollkommen übersteuerten Anlage erinnert. Es ist alles unfassbar laut. Mein rechtes Ohr fängt an zu fiepen. Mein Herz rast. Ich halt es plötzlich nicht mehr aus, freundlich lächelnd am Tresen zu stehen. Ich spüre ihn kommen. Unaufhaltsam. Er folgt mir in die Küche. Ich versuche, ihm zu entwischen, aber er packt mich und hält mich fest. Der Point of no return.

Das was mich nun erwartet kenne ich. Habe ich schon viele Male erlebt. Und jedes Mal ist es aufs Neue ekelhaft. Panik steigt in mir auf. Das Atmen fällt mir plötzlich schwer, meine Hände zittern und werden feucht. Mir ist so heiß. Mein Herz legt nochmal einen Gang zu. Und noch einen. Die Nadel auf dem Tacho bewegt sich zielstrebig auf den roten Bereich jenseits der zu verantwortenden Geschwindigkeit zu. Sie wackelt. Noch einen Millimeter. Ich sehe rot. Und dann kommen sie endlich, die Tränen. So stelle ich mir einen Vulkanausbruch vor, der endlich von sich spuckt, was so lange in seinem Inneren gebrodelt hat. Eine Welle der Trauer und Verzweiflung schwappt in jeden Winkel meines Körpers. Bevor sie abebben kann, kommt direkt die nächste angerollt, nur mit doppelter Wucht. Wirbelt alles durcheinander. Das ist der Moment, in dem ich die Kontrolle verliere. Und zwar voll und ganz.

Ein. Aus. Ein. Aus.

Ich versuche weiterzuatmen. Einatmen. Luft anhalten. Ausatmen. Einatmen. Luft anhalten. Ausatmen. Jetzt bleibt nur zu hoffen, dass es schnell vorbei geht. Und weiteratmen. Alles andere bringt nichts. In diesem Moment kündigt die Ladenglocke neue Kundschaft an. Kacke. Auf dem Weg zurück in den Gastraum checke ich mein Gesicht in der Spiegelung der Mikrowelle. Keine Chance. Selbst wer mich nicht kennt und blind wäre, wüsste sofort, was Sache ist. Da aber nur ich heute arbeite, bringt das mir alles gerade herzlich wenig. Ich gehe so normal wie möglich die Treppen zum Gastraum runter und da steht der Ingwertee mit extra viel Ingwer. Eine unserer Stammgäste. Und schaut mich mit großen Augen an. Schweigen. „Was möchtest du denn trink…“?, setze ich an. Weiter komme ich nicht, breche wieder in Tränen aus und laufe zurück in die Küche. „Alter Lisa, jetzt reiß‘ dich zusammen!“, schreie ich mich innerlich an. Etwas, das ich niemand anderem in der selben Situation auch nur zuflüstern würde.

Wofür es sich lohnt

Als ich wieder zurückgehe, steht der Ingwertee mit extra viel Ingwer noch mit genau so großen Augen an noch genau der gleichen Stelle und sieht ganz schön hilflos aus. In der Ecke sitzt schon seit über einer Stunde unser großer Latte Macchiato mit Zimtpulver, eine andere Stammkundin, die seit meiner kleinen mythologischen Metamorphose in der Küche schwer konzentriert auf ihr Handy schaut, obwohl sie kurz davor eigentlich noch ganz gesprächig war. Mir war der Ingwertee mit extra viel Ingwer von Anfang an super unsympathisch. Also so richtig. Und das passiert mir nicht so häufig. Ihre grelle Stimme, ihr arrogantes Auftreten, ihr kalter Blick. Einfach alles. Jetzt ist nichts davon übrig und sie sieht mich einfach nur an. Mitfühlend. Nicht mitleidig. Ihr Blick wird weich, sie streicht mir etwas unbeholfen über den Arm und fragt mich, ob sie etwas für mich tun kann. Das kann sie tatsächlich. Denn sie raucht Kette und ich habe jetzt dringlich Bock auf eine Kippe, scheiß egal, ob ich noch rauche oder nicht. Andere ertränken ihre Sorgen in Alkohol, mir ist jetzt eben gerade danach, sie abzufackeln. Wenigstens ein bisschen anzukokeln. Wir gehen zusammen raus und sie sagt, ich kann gerne Bescheid sagen, wenn es etwas gibt, das sie noch tun kann. Ich bedanke mich und wir verabschieden uns. Ab sofort gibt es noch mehr Ingwer, glaub‘ mir mal!

Als ich wieder reingehe, steht der große Zimt-Latte-Macchiato auf und möchte zahlen. Sie hat es anscheinend eilig, weicht meinem Blick aus und weg ist sie. Wie unterschiedlich wir Menschen doch sind, denke ich mir noch. Interessant. Was ich da noch nicht weiß ist, dass sie am nächsten Tag wieder da sein und mir selbst gebackene Kekse mitbringen wird, die sie ihren Kindern immer in die Schule mitgibt. Weil sie fand, dass ich so traurig aussah.

Ich mache zehn Kreuze, als ich abends im Bett liege.

Es geht mir besser.

Am nächsten Morgen ist alles wieder genau so beschissen wie davor.

Tagsüber ist es besser, abends wieder schlechter.

Auf und Ab.

Auf

und

Ab.

Auf. Ab.

Auf.

Ab.

Es ist anstrengend. Ich bin müde.

Mühsam. Aber: Es nährt sich.

Die Dinge, von denen ich weiß, dass ich sie gerade nicht wirklich ändern kann, dass ich sie „einfach“ aushalten muss, versuche ich zu akzeptieren. Wende an, was ich in den letzten Jahren ausprobiert und gelernt habe. Überlege immer wieder neu, was mir jetzt gerade helfen könnte, was mir gut tut und was nicht. Spreche darüber, wenn mir danach ist. Spreche nicht darüber, wenn ich es gerade nicht kann oder möchte. Erinnere mich daran, in kleinen Schritten zu denken. In noch kleineren. Halte mich daran fest, dass es vorbeigehen wird. Dass ich weiß, dass ich das weiß. Dass es auch letztes Mal wieder vorbeigegangen ist.

Dass es wieder bergauf gehen wird.

Und irgendwann auch wieder bergab.

Dass ich das aushalten kann.

Ich atme ein.

Tief.

1 Comment »

  1. Schwer, was zu sagen. Man fühlt ein Gefühl nach, möchte tief einatmen, aber es geht nicht. Es drückt tatsächlich etwas auf die Brust. Ich muss erstmal aufstehen und ein paar Schritte gehen. Wenn es dir wenigstens dadurch leichter ginge, würd ich dir einen Teil abnehmen. Aber es hilft dir ja nicht, wenn ich mich in dich reindenke, wenn ich mitfühle. Hilflos und doch reich ich dir die Hand. Nützt dir nix. Vielleicht ein ganz klein wenig? Bleib stark.

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