Rette mich. Wer kann?

Bildquelle: Lisa C. Waldherr

Manche Momente brennen sich für immer in unser Gedächtnis. Ohne um Erlaubnis zu bitten.

Ich sitze auf meiner Fensterbank und rauche die dritte Zigarette in Folge. Meine Hände zittern. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal gegessen habe. Allein bei dem Gedanken daran wird mir schlecht. Ich ernähre mich seit Tagen nur noch von Kaffee und Zigaretten. Keine einzige Jeans passt mir mehr. Mein Herz rast. Jede Bewegung kostet mich unendliche Überwindung. Am Horizont zeichnen sich wie durch einen Schleier die Kräne am Hafen ab. Ein Bild, das mich sonst mit einer unbändigen Freude und tiefer Verbundenheit zu meiner Wahlheimat erfüllt. Jetzt sind es einfach nur Kräne. An einem Hafen. In einer Stadt. Einer Stadt irgendwo auf der großen weiten Welt. Ich ziehe an meiner Zigarette und blase den blau-weißen Rauch in die spätsommerliche Abenddämmerung. Mir ist schon ganz schlecht. Ich rauche weiter. In mir ist es leer. Das einzige, was ich zu empfinden im Stande bin, sind tiefste Verzweiflung und eine endgültige, vernichtende Hoffnungslosigkeit. Das einzige, was in meinem Kopf Kreis um Kreis dreht, ist der Gedanke, dass das hier niemals vorbeigehen wird. Gejagt vom nächsten Gedanken, der sagt, dass er all das keine einzige Sekunde länger mehr aushält. Ich schaue auf die Uhr. Halb 7. Hinter mir liegt ein Tag, der sich anfühlt wie ein Jahr. Bald ist Nacht und ich habe panische Angst davor. Weil ich wieder nicht schlafen werde und die Gedanken noch erbarmungsloser auf mich niederprasseln werden. Ich bin mir sicher, dass da kein Licht am Ende des Tunnels ist. Nein, ich weiß es. Egal, was die anderen sagen. Die haben keine Ahnung. Sagen es, um mich zu beruhigen. Woher wollen sie es denn wissen? Es ist einfach nur schwarz. Alles was war, alles was ist, alles was kommt. Meine Seele schreit und windet sich und findet schon seit Monaten keinen Moment der Ruhe. Sie kann nicht mehr. Ich will einfach nur aus meinem Körper heraus, ihm und all diesen Gedanken, den Schmerzen, der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung entfliehen.

Ich kann nicht mehr. Und damit bin ich nicht alleine.

Es war die Hilflosigkeit in ihrem Blick. Die Angst in ihrem Gesicht. Das Zittern in ihrer Stimme, als sie mich anflehte, mir endlich Hilfe zu holen. Eine noch nie da gewesene Unbeholfenheit, als sie mich zum Abschied umarmte und in der Sicherheitskontrolle verschwand. Zum ersten Mal in meinem Leben drehte sie sich nicht nochmal um. Ich wusste, dass sie weinte. Und ich wusste, dass ein Punkt erreicht war, an dem sie mir nicht mehr helfen konnte. Ganz egal, was sie tat. Ganz egal, wie sehr sie es versuchte. Ganz egal, wie sehr sie mich liebte. Ich wusste, dass mir niemand mehr helfen konnte. Dass nur noch ich mir selbst helfen konnte. Und genau hier lag das Problem.

Unten auf der Straße streiten sich zwei Kinder um ihr Eis. Die Welt dreht sich einfach so weiter. Als wäre nichts passiert.

Mehr als alles andere weiß ich, dass ich ich mir nicht mehr selbst helfen kann. Dass ich am Ende bin. In jeglicher Hinsicht. Ich habe komplett die Kontrolle verloren. Über meinen Körper, meinen Geist, all meine Empfindungen, Erinnerungen, Gefühle und Gedanken. Ich baumele wie eine leblose Marionette schlaff an einem seidenen Faden, der nicht dem leisesten Windhauch mehr standhalten wird. Die Erkenntnis dieser absoluten Machtlosigkeit und des Verlusts jeglicher Einflussnahme auf all das, was da gerade mit mir geschieht, trifft mich mit einer Wucht, die alles andere in den Schatten stellt. Und dann, plötzlich, ist es da.

Das Gefühl, das in rasender Geschwindigkeit bis in den allerletzten Winkel meines Körpers kriecht, kann ich nicht sofort einordnen. Es ist so überwältigend, dass mir die Luft wegbleibt.

Ich hätte niemals für möglich gehalten, dass ich mich jemals in meinem Leben so einsam und verloren fühlen würde. So unfassbar alleine. Dass da Grenzen waren, an die selbst die größte und bedingungsloseste Liebe stoßen würde. Dass jeglicher Zuspruch, Trost und Rückhalt, jede nur erdenkliche Unterstützung an mir abprallen würde, als hätte es sie nie gegeben. Dass nichts mehr mich erreichen könnte.

Mittlerweile ist es dunkel geworden. Ich sitze immer noch auf meiner Fensterbank. Aus der Ferne leuchten mir die Lichter des Hafens entgegen und machen den Himmel darüber ein kleines bisschen hell. Drum herum ist alles schwarz.

Und da weiß ich, dass ich Hilfe brauche. Ich bete zu Gott, dass ich sie schnell bekomme.

Zu einem Gott, an den ich schon lange nicht mehr glaube.

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