Damit kann ich arbeiten.

Bildquelle: Lisa C. Waldherr

Make a wish

Die Liste der guten Wünsche ist lang, sei es zum Geburtstag, zum Start ins neue Jahr oder anderen „wünschenswerten“ Ereignissen in unserem Leben. Da wird gewünscht, was das Zeug hält. Zu den absoluten Spitzenreitern gehören Gesundheit, Glück, Zufriedenheit, Erfolg…Was auch immer uns da auf hübschen Postkarten oder verschmierten Handydisplays erwarten mag, die gut gemeinten Worte des Senders erlangen ihre Bedeutung stets erst durch die Interpretationen des Empfängers. Und die könnten wohl unterschiedlicher nicht sein.

Das ist doch krank…

Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) beispielsweise definiert Gesundheit als „(…) ein(en) Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.“ Ich denke darüber nach, was diese Definition bei genauerer Betrachtung in Bezug auf psychische Erkrankungen, im Speziellen die bipolare Störung, bedeuten würde. Ein „Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“ scheint mir zwar ziemlich erstrebenswert, andererseits allerdings nicht wirklich realistisch. Würde man danach gehen, wären vermutlich 90% der Menschheit offiziell „krank“. In einer manischen Phase beispielsweise fühlen sich Bipolare definitiv vollkommen körperlich, geistig und sozial wohl. Leider etwas zu wohl. Und trotzdem ist dieser Zustand nicht „gesund“. Depressive sind nicht gebrechlich…Was der eine Mensch vielleicht als „krank“ empfinden würde, setzt ein anderer für sich in Relation und fühlt sich damit weitestgehend „gesund“…Gedankenfetzen in meinem Kopf.

Zeit aufzustehen!

Für mich bedeutet Gesundheit, morgens aufstehen und meinen Alltag ohne unüberwindbare Anstrengungen bewältigen zu können. Mich den Herausforderungen des Lebens gewachsen zu fühlen. Von der verschwindend kleinen wie dem morgendlichen Zähneputzen bis hin zu den ganz ganz großen. Gesund zu sein bedeutet für mich, mein Leben trotz gewisser Umstände und auch Einschränkungen, die meine Bipolarität mit sich bringt, selbstbestimmt zu gestalten und niemals den Glauben zu verlieren, dass alles gut wird. Dass auch den längsten und dunkelsten Tunnel am Ende wieder das Licht erwartet. Was hier gerade so leichtfüßig über die Tastatur huscht, ist in Phasen schwerer Depression keine Option. Eine seelenlose leere Aussage, die auf halbem Weg zu unserem Verstand plötzlich spurlos verschwindet.

Störung in der Leitung

Wer noch nie mit einer Mischung aus Entsetzen und Gleichgültigkeit ertragen musste, wie es sich anfühlt, die Kontrolle über jegliche Impulse zu verlieren, die unserem Körper sonst Bewegung suggerieren, wird sich nicht vorstellen können, wie es möglich ist, dass jemand morgens einfach nicht aufstehen kann. Es sei denn natürlich, es handelt sich um zwei gebrochene Beine oder eine andere schwere körperliche Krankheit, die man am besten direkt auf den ersten Blick von außen erkennt. Damit jeder Bescheid weiß. Wüsste ich selbst nicht, wie es sich anfühlt, ich könnte es nicht glauben. Jedem Menschen, der diesem Gefühl noch nicht begegnet ist, gönne ich das von ganzem Herzen und wünsche ihm oder ihr, dass es auch in Zukunft dabei bleibt.

Was für den einen zur grundlegenden Definition von Gesundheit bedeutet, wie zum Beispiel das Aufstehen am Morgen, könnte für viele anderen Menschen selbstverständlicher nicht sein. Unsere ganz persönliche Definition von „gesund sein“ hängt immer davon ab, welchen subjektiven Wert wir dem Phänomen „Gesundheit“ zusprechen. Dieser wiederum ist das Resultat diverser Erfahrungen, Umstände, unserem bisherigen Lebens- und gegebenenfalls auch Leidensweg, Vergleichen, Prädispositionen und noch vielem mehr.

Was der Bauer nicht kennt…

Die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen in unserer Gesellschaft macht Fortschritte, keine Frage. Aber es geht noch so viel mehr. Nach wie vor fällt es uns Menschen leichter, Dinge zu akzeptieren und anzuerkennen, die ganz offensichtlich sind. Die wir klar und deutlich sehen können. Am liebsten schwarz auf weiß. Und mit Stempel drauf. Ich greife einfach nochmal auf den Klassiker zurück: Das gebrochene Bein, komplett eingegipst. Vielleicht blaue Flecken oder Schürfwunden vom Unfall. Mist, das muss echt wehtun. Erstmal schön auskurieren! Niemand würde jemals von jemandem mit einem oder zwei gebrochenen Beinen erwarten, aufzustehen und einfach loszulaufen. Leider sind die Protagonisten eines gestörten Hirnstoffwechselspiels wohl immer noch nicht salonfähig, die Bühne nicht groß genug, um das Publikum für psychische Erkrankungen begeistern zu können. Leid und Qual spielen sich unauffällig in unserem Hirn ab, fein säuberlich verpackt in unsere Schädeldecke, dekoriert mit einer hübschen Frisur on top. Da kann man sich doch einfach mal zusammen reißen.

Mit Vorsicht zu genießen?

Ich denke oft darüber nach, wie ich mich selbst in Bezug auf meine Krankheit sehe. Welchen Blick ich mir von anderen in dieser Hinsicht wünschen würde. Einerseits möchte ich auf keinen Fall mit Samthandschuhen angefasst werden, sondern einfach „ganz normal“ behandelt werden. Andererseits bringt meine Erkrankung bestimmte Voraussetzungen, Umstände und Bedingungen mit sich, die sich fernab des allgemein als „normal“ geltenden Bereichs bewegen. Im wahrsten Sinne jenseits von Gut und Böse. Will ich auch in diesen Momenten, dass mein Umfeld mit mir umgeht, als wäre nichts gewesen? Will ich, dass mein Chef, der von meiner Erkrankung weiß, mir Überstunden bis zum Gehtnichtmehr auflädt und Nachtschichten zuteilt, obwohl er über die negativen Auswirkungen von Stress und einem gestörten Schlaf- und Wachrhythmus auf das Krankheitsbild informiert ist? Will ich, dass meine Freunde mit mir feiern und die Nächte durchmachen, als gäbe es kein Morgen mehr, obwohl sie wissen, dass ich gerade manisch bin und wie es weitergehen wird, wenn mich nicht bald jemand bremst? Will ich, dass meine Schwester zu mir sagt „Jetzt reiß dich doch mal zusammen“ oder „Ist doch gar nichts passiert“, wenn ich depressiv und seit Tagen nur noch am Heulen bin? Will ich als krank gesehen werden? Will ich eine „Sonderbehandlung haben“? Sehe ich mich selbst als krank?

Take it.

Der Grat ist schmal. All diese Fragen lassen sich nicht von einem auf den anderen Tag beantworten. Und auch nicht in einem Blogartikel. Ich habe Jahre dafür gebraucht und es kommen fast täglich neue dazu. Auf manche Fragen gibt es keine Antwort. Auf andere muss es keine geben. Manche Dinge im Leben haben wir nicht unter Kontrolle. Dazu gehört auch, ob wir physisch oder psychisch krank werden. Das Leben ist wunderschön, aber weit entfernt von gerecht. Wir tun uns einen Gefallen, wenn wir das, was wir nicht ändern können, akzeptieren. Und zwar so bald wie möglich. Alles andere ist verschwendete Zeit und Energie. Was wir akzeptieren, können wir annehmen und was wir annehmen, wird ein Teil von uns.

Or leave it.

Meine bipolare Störung ist ein Teil von mir. Sie ist nicht mein Feind. Ich bin krank, aber ich bin nicht die Krankheit. Vermutlich hätte ich sie mir im Supermarktregal nicht ausgesucht, wenn ich die Wahl gehabt hätte. Auch nicht als Sonderangebot. Aber irgendwie ist sie nun mal in meinen Einkaufswagen gerutscht. Ich habe kein Problem damit, zu sagen „Ich bin krank“. Wenn ich eine Grippe habe, denke ich auch nicht darüber nach, ob ich mich jetzt trauen sollte, zu sagen „Ich bin krank“. Da mir allerdings bewusst ist, dass ein Großteil unserer Gesellschaft dann vielleicht doch einen etwas größeren Unterschied zwischen Depression und Schnupfen macht, bin ich auf alles gefasst, wenn ich noch das kleine Wörtchen „psychisch“ vor das „krank“ setze. Was ihr daraus macht, bleibt euch überlassen.

Darauf können wir bauen…

Auch uns bleibt überlassen, was wir aus dem Päckchen machen, das wir ungefragt bekommen haben. Es gibt zwei Möglichkeiten. Und da wir nicht immer aus Scheiße Gold machen müssen, Optimierungswahn und emsige Leistungsgesellschaft bei aller Liebe, reicht es für’s Erste vielleicht auch, erst mal dort anzusetzen, wo wir mit unserer psychischen Erkrankung stehen. Sie als Teil von uns anzuerkennen. Den Forderungen nachzukommen, die sie an uns stellt. Die Bereitschaft zu zeigen, diese zu respektieren. Und dann, ganz langsam, Schritt für Schritt, mit viel Nachsicht und Geduld, die Fähigkeit zu entwickeln, so gut wie möglich mit all dem umzugehen. Ein lebenswertes Leben zu führen. Trotz und mit ihr.

Denn nichts Geringeres als das haben wir verdient.

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