Ein dunkelbunter Strauß voll Leben.

Bildquelle: Marie-Sophie Dollenberg

Das gute Fee

Ich liege gerade gemütlich eingekuschelt und entspannt in meinem Bett, lausche entspannter Musik bei entspanntem Kerzenschein, während mir nebenher mindestens genau so entspannt kleine leckere Toffifees um die Ohren fliegen. Wer bitte denkt sich so eine Verpackung aus??! Reine Schikane, wenn ihr mich fragt. Mir fällt auf, dass ich mich nicht erinnern kann, jemals in meinem Leben eine Tafel Schokolade oder Ähnliches geöffnet zu haben, ohne sie direkt bis auf den letzten Krümel aufzuessen. Ich frage mich, woher diese kleinen Rillen in der Schokolade, die das Teilen oder gar das Auf-Teilen (ein Worst-Case-Szenario jagt das nächste) eben jener wohl einfacher machen sollen, überhaupt ihre Daseinsberechtigung haben. Frevel!

So. Alle Toffifees (oder müsste es im Plural vielleicht Toffifeen heißen? Toffi, die kleine Karamell-Fee?) wieder eingesammelt. Und „versorgt“. Dann kann ich mich jetzt ja wieder entspannen. Und schreiben.

Schwarz auf Weiß

Ich schreibe Tagebuch seit ich schreiben kann. Denke ich. Es war immer schon schön gewesen, sich im Nachhinein durch die vergangenen Wochen, Monate und sogar Jahre zu blättern, diese untereinander zu vergleichen, Revue passieren zu lassen, sich wieder zu erinnern. All das für immer verewigt zu haben. Allerdings hätte ich niemals geahnt, wie wichtig diese Aufzeichnungen meiner Vergangenheit einmal für mich sein könnten. Wie wertvoll sie waren. Und zwar nicht nur für mich persönlich.

Relativ zu Beginn meiner Zeit in der Klinik vor genau zwei Jahren, drückte mir meine Therapeutin einen Stapel Blätter in die Hand und bat mich, bis zur nächsten Sitzung doch mal ein paar Life Charts der letzten fünf oder am besten zehn Jahre anzufertigen, mit allen Höhen und Tiefen. Auf den Monat und am besten auf die Woche genau. Aha. Sorgen bereitete mir dabei nicht etwa die Frage, wie um alles in der Welt ich mich auch nur annähernd an die Einzelheiten der letzten zwei Jahre oder auch nur des letzten Jahres erinnern sollte. Was ich nicht mehr würde erinnern können, das hatte ich irgendwo Schwarz auf Weiß. So viel war sicher. Viel eher beunruhigte mich die Vorstellung, wie viel Zeit es kosten würde, all meine Aufschriebe der letzten Jahre zu durchforsten. Ich war zu Recht beunruhigt.

Ungeahnte Gemeinsamkeiten

Eine Woche später saß ich meiner Therapeutin wieder gegenüber. Mit der Achterbahnfahrt meiner jüngeren Vergangenheit in Papierformat auf meinem Schoß. Es waren keine geschätzten oder ungefähren Angaben. Kein Vielleicht, kein Wahrscheinlich, kein eher nicht. Genau so, wie ich die Kurven etwas wackelig mit dem schwarzen Filzstift auf das Papier gezeichnet hatte, war es gewesen. In der Mitte war eine Nulllinie. Ich fragte mich damals, was sich die Ersteller dieser Achsen dabei gedacht hatten, weil es eigentlich erst weit abseits von ihr, oben oder unten halt, so richtig abging. Ich listete akribisch auf, wann ich welche Medikamente genommen, vertragen, nicht vertragen, ausgeschlichen oder einfach abgesetzt hatte. Welche Jobs ich in der jeweiligen Zeit gemacht hatte. Ob ich damit glücklich gewesen war. Wie viel ich gefeiert, wie wenig geschlafen, wie viel Alkohol ich getrunken hatte. Wie meine Lebensgewohnheiten allgemein gewesen waren. Und so weiter. Und letzten Endes verbanden sich all diese einzelnen Punkte zu einem Schaubild der Extreme, weitab von jeglicher Kontinuität geschweige denn Neutralität. Die letzten Jahre hätten wohl unterschiedlicher nicht sein können, so viele Ereignisse, Entwicklungen, Veränderungen, in sämtlichen Lebensbereichen. Und doch glichen die Kurven ihrer Schaubilder wie ein Ei dem anderen.

Ich glaubte zuerst, einen Fehler gemacht und mich vertan zu haben, aber ich hatte sie Schwarz auf Weiß vor mir: Meine hypomanen und depressiven Phasen der letzten Jahre. Nach denen ich rückblickend fast die Uhr hätte stellen können, so zuversichtlich waren sie gekommen und gegangen. Die Hypomanie, vom ersten Vogelgezwitscher sachte und sanft aus dem Winterschlaf geweckt, kletterte mit jedem Grad mehr auf dem Thermometer ebenfalls eine Sprosse höher auf der Leiter der Lebenslust, um ein paar Monate später, ganz oben angekommen, plötzlich und völlig unerwartet das Gleichgewicht zu verlieren und in die Dunkelheit der Depression zu stürzen. Und es war nicht der Boden, der den Fall auffing. Denn der war einfach weg.

Gigantisch grau und schrecklich schön

Ich umarmte das Leben nicht, ich fiel darüber her. Bis es vor mir davon lief. Ich rauchte nicht, ich brannte. Bis nur noch ein Aschehäufchen übrig war. Meine Gedanken flossen nicht, sie rasten. Bis sie nur noch kreisten. Ich lief nicht, ich rannte. Bis ich nicht mehr konnte. Ich brachte keinen frischen Wind mit rein, ich fegte wie ein Sturm über alles hinweg. Von dem nichts übrig blieb. Ich lächelte nicht, ich lachte aus vollem Halse. Bis mir die Luft wegblieb. Ich glühte nicht vor, ich fackelte mich ab. Bis ich Verbrennungen 3. Grades hatte. Ich sang nicht, ich grölte. Bis es mir die Sprache verschlug. Ich blubberte nicht, ich schäumte über. Bis keine Kohlensäure mehr da war. Ich funktionierte nicht nur, ich war stets 100% geladen. Bis auf einmal alle Akkus leer waren.

Die Welt lag mir nicht zu Füßen, sie rollte mir den roten Teppich aus. Bis ich merkte, dass ich nicht die passende Garderobe dafür trug. Ich war nicht begeistert, ich war die Begeisterung. Bis nur noch Entgeisterung blieb. Ich sprang nicht über meinen Schatten, ich flog mit dem Licht. Bis ich erblindete. Ich fühlte nicht, sämtliche Gefühle nahmen Besitz von meinem Geist. Bis er gefangen war. Ich tanzte nicht, ich schwebte. Bis mein Körper erstarrte. Ich war nicht verliebt, ich war so voller grenzenloser Liebe, dass ich nicht wusste, wohin damit. Bis da nur noch Leere war. Ich schlief nicht, ich träumte die kühnsten Träume. Bis selbst diese jeglichen Reiz verloren. Mein Blut pumpte nicht, es schoss durch meine Adern. Bis es auf einmal gefror. Ich war nicht wach, ich war unter Strom. Bis irgendwann alle Sicherungen durchknallten. Ich war nicht einfach nur aktiv, ich war getrieben. Bis die Jagd schließlich ein Ende fand.

Ich baute keine Luftschlösser, ich meißelte Burgen in Stein. Unter dessen Last ich zusammenbrach. Ich freute mich nicht, ich schwamm in einem Meer voll Serotonin, Dopamin und Endorphinen. An dessen Küste mich ein Strand voll Treibsand erwartete.

Ich sah die Welt nicht mit anderen Augen, ich erfand sie neu.

Bis sie mir so unfassbar fremd wurde.

Mein Herz klopfte nicht, es raste.

Bis es auf einmal stolperte, hinfiel und einfach liegen blieb.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s