Mit Vollgas über die Insel

Ich sitze gerade mit einer Tasse Tee in meinem alten Kinderzimmer und erinnere mich an den November letzten Jahres, als ich zur genau selben Zeit zu Besuch bei meiner Familie war. Und jeden Abend bei meiner Mutter im Arm geweint habe. Es mal wieder so weit war. Und zwar direkt nach der Saison auf Fehmarn, wo ich 2018 sieben Monate gelebt und gearbeitet hatte, um, bei aller grenzenloser Liebe zu Hamburg, dem Großstadttrubel mal für eine Weile zu entfliehen. Nach Saisonende Anfang November hatte ich gerade noch keinen neuen Job und auch meine Wohnung in Hamburg noch nicht wieder zurück, die ich während meiner Abwesenheit untervermietet hatte. Ich wechselte in zwei Monaten über zehn mal den Schlafplatz, wohnte bei diversen Freunden in Hamburg und pendelte zwischen Stuttgart, Berlin und Fehmarn hin und her. Und auch wenn das Inselleben auf Zeit eine ganz wundervolle, intensive und irgendwie magische Zeit voller neuer Erfahrungen, inspirierender Begegnungen und schöner Momente war, hatte mich die Saison im Café am Meer mit den ausschließlich 10 bis 12-Stundenschichten, und das teilweise über eine Woche am Stück ohne Pause, gegen Ende dann doch ganz schön geschlaucht. Was im Nachhinein betrachtet nicht wirklich überraschend ist. Der Bandscheibenvorfall, den ich vermutlich größtenteils meinem emanzipatorischen Bierkistenwuchten à la „Lass gut sein, ich mach das schon!“, zu verdanken hatte, war im Vergleich zu den dunklen Wochen, die mich zum Herbstbeginn erwarteten, schlichtweg nicht erwähnenswert.
Ich hatte im April 2018 zum ersten Mal seit meinem Aufenthalt in der Klinik wieder gearbeitet. Meine vorangegangene Krankschreibung, aufgrund derer mich mein neuer Arbeitgeber damals nach nur einer Woche Abwesenheit in der Probezeit gekündigt hatte, eingerechnet, war ich inklusive des Klinikaufenthalts sieben Monate krankgeschrieben gewesen und hatte mich Schritt für Schritt wieder im Alltag zurechtfinden müssen. Und zwar erstmal ohne Job, ohne einen Wecker, der morgens klingelt, ohne feste Verpflichtungen, die man erfüllen soll oder darf, ohne einen sicheren Rahmen oder jegliche Struktur. Ohne offiziell „gebraucht“ zu werden. Alle Freunde und Familie in ihrem Alltag und ihren Jobs. Und ich? Joa. Ich und ich würde ich sagen. Nachdem ich zwei Monate in einer Art „sicherem Hafen“ in der Klinik aufgefangen wurde, mit Menschen, die auf eine bestimmte Art alle in einem Boot saßen. Auch dieser Zeit werde ich noch einen eigenen Artikel widmen. Denn sie war alles andere als leicht.
Gleichzeitig habe ich selten so viel über mich gelernt wie in diesen letzten Monaten des alten und den ersten des neuen Jahres und eine ganz andere Art von Selbstbewusstsein, Unabhängigkeit und Urvertrauen entwickelt. Ein Urvertrauen zu mir selbst. In den Spiegel zu schauen und zu sehen, was bleibt, wenn da nichts mehr im Außen ist, was dir einen Rhythmus vorgibt. Da bist nämlich in erster Linie erstmal du selbst. Und du bist verantwortlich für den Takt deines Lebens. Und zwar ohne Job. Ohne jegliche Routine. Ohne „Sicherheit“. Vielleicht erstmal mit sehr wenig Geld. Uns nicht über unseren Job, die damit verbundene Anerkennung, Status, Macht, Wissen, Wohlstand, Leistung oder dergleichen zu definieren. Nicht in erster Linie über unser soziales Umfeld durch ständigen Austausch, Meinungen von und Bestätigung im Außen. Über unser Aussehen. Das tun wir alle. Und teilweise ist das auch gut und richtig so. Aber ist es auch möglich, uns einfach „aus uns selbst heraus“ zu definieren? Was bleibt, wenn wir einmal aus den verschiedenen Rollen, die wir in unserem Leben innehaben, Tochter, Sohn, Mutter, Vater, Freund/in, Partner/in, Angestellte/r, Chef…in Gedanken herausschlüpfen oder uns eine oder mehrere plötzlich genommen werden? Damit meine ich jetzt keinen Todesfall, zum Beispiel einen Jobverlust, wodurch einem plötzlich die Rolle des/der Angestellten entzogen wird. Eine Trennung. Den Auszug eines erwachsenen Kindes. Was macht uns jenseits dessen aus? Jemand sagte einmal zu mir, dass es unmöglich wäre, sich nur aus dem Innen heraus zu definieren. Das ist es nicht. Dafür aber unfassbar schwer und vermutlich lebenslange und kontinuierliche Arbeit. Hat man diesen Punkt jedoch einmal erreicht, kann einem denke nicht mehr viel passieren. Bald auch mehr zu diesem Thema…
Ich hatte mich, als ich im April 2018 anfing, auf der Sonneninsel zu arbeiten, so unfassbar über die Arbeit im Café gefreut, die mir so viel Spaß machte und war einfach nur glücklich und stolz darauf, dass ich wieder arbeiten durfte, wollte und vor allem auch konnte, wo ich noch vor ein paar Monaten nicht mal in der Lage war, das Haus geschweige denn mein Bett zu verlassen und der festen Überzeugung, dieser Zustand würde sich niemals wieder ändern. Nicht mehr vom Krankengeld abhängig war, von dem damals nach Abzug meiner Fixkosten genau 30 Euro übrig blieben. Dass es sich etwas schwierig gestaltet, von 30 Euro im Monat zu leben, muss ich an dieser Stelle denke ich nicht weiter ausführen. Wodurch mir meine Zeit in der Klinik erfreulicherweise noch durch das Stellen eines Hartz 4-Antrages versüßt wurde. Eine Angelegenheit, die bei mir selbst ohne Konzentrationsstörungen, chronischen Schlafmangel und zu der Zeit diverse andere akute Symptome nicht auf Begeisterung gestoßen wäre. Von meinen Erfahrungen auf diversen Ämtern und meiner aufschlussreichen und inspirierenden Begegnung mit dem netten und hilfsbereiten Herrn von der Krankenkasse erzähle ich zur allgemeinen Unterhaltung gerne bei Gelegenheit.
Einfach wieder gewisse finanzielle Freiheiten zu haben, nicht jeden, wirklich jeden einzelnen Cent umdrehen zu müssen und vor allem nicht mehr von einer anderen Instanz abhängig zu sein. Das hat sich einfach nur gut angefühlt. In der Gastronomie zu arbeiten, was mir, ob neben dem Studium oder auch mal in Voll-oder Teilzeit entgegen vieler Zweifel, kritischer Stimmen und teilweise berechtigter Sorge in meinem Umfeld, schon immer sehr viel Spaß gemacht hat. Mir sowohl der Austausch mit den Gästen als auch die Arbeit in einem gut funktionierenden Team einfach liegt und mich irgendwie erfüllt. Durch das unschlagbare Team auf Fehmarn und die Freundschaften, die dort sehr schnell entstanden sind, fühlte sich die Arbeit trotz der eigentlich unmenschlich langen Schichten und der nicht enden wollenden Schlange von Gästen nie wirklich wie Arbeit an. Der dort herrschende Teamgeist hat alles kompensiert.
Ich hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß auf der Arbeit. Noch dazu den schönsten Arbeitsweg der Welt zu haben und morgens mit meiner verrosteten Klappermühle über knallgelbe Rapsfelder am glitzernden Wasser entlang zu trödeln, die Fehmarnsundbrücke majestätisch am Horizont, die kreischenden Möwen am fast immer blauen Himmel über mir, frische Ostseeluft, die mir um die Nase wehte. Vor Schichtbeginn mit den Kollegen Kaffee und Kippchen in der Sonne auf der Terrasse, die die nächsten zehn Stunden rappelvoll mit Touristen sein würde. Was uns trotzdem nicht aus der Ruhe bringen oder uns gar die gute Laune verderben würde. Die Unentbehrlichkeit von schlechten Witzen und einfach nur dummem Gelaber auf der Arbeit. Die Weite des Meeres direkt vor unserer Nase. Die Kiter, die bei Wind ihre Bahnen von links nach rechts und zurück zogen, sich ab und zu in die Lüfte erhoben und manchmal für den Bruchteil einer Sekunde scheinbar dort einfroren. Die in den Yachthafen ein- und auslaufenden Segelboote und Fischkutter. Als der Sommer in vollem Gange war, morgens vor der Arbeit und schon vom Radfahren nassgeschwitzt vom Steeg in die Ostsee zu hüpfen und jede kleine Pause am Tag zu nutzen, um genau das zu wiederholen. Sich mit Arschbomben und Rückwärtssaltos zu batteln. die Blaualgenwarnungen zu ignorieren. Auf der Vollmondparty alle zusammen nackt und vom Wasser aus die Mondfinsternis zu bestaunen. Kurz vor Feierabend gemeinsam mit den Gästen, König-der-Löwen-Soundtrack oder anderer dramatischer Musik einen der schönsten Sonnenuntergänge miterleben zu dürfen, die ich je gesehen habe. Jeden Abend aufs Neue. Sieben Monate lang. Und das nicht 30 Flugstunden entfernt, sondern direkt vor unserer Nase. All diese Dinge hatten die Tatsache, dass so eine Saison in der Gastronomie auf einer Touristeninsel doch mehr als knackig sein kann, erstmal für mich kompensiert. So dass ich erst ganz am Ende, als ich irgendwann runterkam, merkte, wie anstrengend die letzten Monate doch gewesen waren. Trotz aller Schönheit, Freiheit und Magie.
Ganz am Anfang war ich nach den Schichten, die zu Beginn der Saison aufgrund des früheren Sonnenuntergangs noch deutlich kürzer waren, überdurchschnittlich erschöpft gewesen und musste mich erst wieder an das Pensum gewöhnen. Überhaupt daran, wieder zu arbeiten, körperlich, aber auch was meine Konzentration und mein Erinnerungsvermögen betraf. Das Energielevel vor meiner schweren depressiven Episode 2017 habe ich bis heute nicht wieder erreicht und brauche immer noch deutlich mehr Pausen und Erholung als die anderen Menschen in meinem Umfeld. Zu viel Stress oder eine zu starke Belastung über einen zu langen Zeitraum ohne regelmäßige und ausreichende Pausen sind bei mir mittlerweile fast die Garantie für einen Ausflug in Gefilde weit jenseits der Nulllinie. Eine Erkenntnis, die zu akzeptieren mir anfangs schwer fiel. Diese Auslöser habe ich nach und nach zu identifizieren gelernt, der Umgang mit ihnen und vor allem auch deren Reduzierung auf ein Minimum ist nach wie vor konstante Arbeit. Die immer wieder auf’s Neue ein hohes Maß an Achtsamkeit, Reflexion und Einsicht erfordert, was oft anstrengend ist. Vor allem, weil die Kunst, um nicht aus der nächsten Kurve herausgeschleudert zu werden, darin besteht, frühzeitig abzubremsen. Dabei macht schnelles Fahren doch so viel Spaß und bremsen kann man doch auch noch später. Oder nicht?
Auf Fehmarn habe ich zum ersten Mal seit der Klinik wieder gearbeitet, in der ich zwar einiges an Theorie gelernt hatte, vor allem was Belastungsgrenzen oder Überlastung angeht. Aber das Wissen darum und die Umsetzung dieses Wissens sind, wie ich im herbstlichen Nachhilfeunterricht dann auf die etwas härtere Tour lernen musste, einfach doch zwei paar Schuhe. Vor lauter Begeisterung, dass ich wieder unabhängig war und ich trotz allem wieder arbeiten konnte, hatte ich relativ schnell das gesunde Maß aus dem Blick verloren und es mit den langen Schichten wohl etwas übertrieben. Dachte mir, klar, ist schon anstrengend, aber so lange es mir so viel Spaß macht, kann es doch nicht schlecht sein. Kann es doch. Auch positiver Stress gepaart mit überdurchschnittlicher körperlicher Belastung kann irgendwann zu viel sein. Wird.
Ich finde Gas geben nach wie vor super.
Allerdings merke ich immer öfter, dass ich die Kurve irgendwie besser kriege, wenn ich rechtzeitig abbremse.
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