Sets. Wähle deine Welle weise.

Bildquelle: Lisa C. Waldherr

Ich sitze frisch geduscht in meinem etwas in die Jahre gekommenen, aber immer noch ausreichend flauschigen Bademantel in meiner Küche. Meine in kuschelige und damals Masche für Masche sorgfältig von Oma gestrickte bunte Wollsocken eingepackten Füße an die heiße Heizung gedrückt, die den Raum mit der für sie so typischen und etwas stickigen Luft füllt. Ich kann die Wärme förmlich einatmen. Vor mir auf dem Tisch flackert und knistert eine Kerze in dem alten Messinghalter. Die kleine Espressomaschine auf dem Herd blubbert mit den silbergrauen Wölkchen, die aus dem Schornstein im Hinterhof wie flauschige Wattebäuschen hervollquellen, um die Wette. Ich öffne kurz das Fenster, um den Dampf aus dem Badezimmer herauszulassen, das sich tatsächlich in meiner Küche befindet, was manchmal mehr, manchmal weniger gut, aber insgesamt ziemlich amüsant und auch ganz schön praktisch ist. Frische kalte, aber noch nicht eisige Morgenluft strömt herein. Die Sonne erklimmt erhaben das letzte Häuserdach und flutet den Innenhof mit einem zarten warmen Goldorange. Ich atme die frische Luft tief ein, strecke mich und drehe das Radio auf. Der Herbst ist da.

In den letzten Jahren habe ich ihm immer mit einer gewissen Skepsis entgegengesehen. Vielleicht sogar Ablehnung. Angst. Wollte den Sommer, seine Wärme, die Helligkeit und die langen Tage nicht loslassen. Wie vermutlich 90 Prozent der deutschen Bevölkerung. Aber es gab noch einen anderen Grund für meine Gefühle gegenüber dieser Jahreszeit, die doch so wunderschön sein kann. Ich kann mich nicht genau erinnern, wann es anfing. Ich weiß nur, dass es schon sehr sehr lange so war. Vor allem die letzten fünf Jahre vor meinem Klinikaufenthalt im Herbst 2017 erinnere ich fast bildhaft und sehr gut. Die Tage wurden kürzer, das unermüdliche Strahlen des Sommers schwächer, die Helligkeit matter. Der Spätsommer konnte sich noch so von seiner besten und schokoladigsten Seite zeigen, in meinem Inneren wurde es heimlich und leise, aber unaufhaltsam dunkler. Abgesehen von meinen Tagebucheinträgen kann ich den genauen Zeitpunkt dessen so genau einordnen, da ich in den letzten Jahren immer den Geburtstag einer guten Freundin Ende September verpasst hatte, weil es mir so schlecht ging, dass das letzte, was ich hätte gebrauchen oder ertragen können, viele und noch dazu gut gelaunte Menschen auf einem Haufen gewesen wären. Auch wenn es mir jedes Mal Leid tat und sie jedes Mal enttäuscht war. Nach ein paar Jahren wusste sie Bescheid, erwartete nichts Anderes mehr und wir holten ihren Geburtstag später zu zweit nach, bei Kuchen und Kaffee. Und es war okay so.

Anfangs dachte ich immer, das wäre wohl einfach eine lupenreine Herbstdepression, wie sie viele Menschen aufgrund des Lichtmangels in unseren Breitengraden haben. Kein Wunder bei der vielen Dunkelheit, Kälte, Sturm und Regen. Ich besorgte mir eine Tageslichtlampe. Stellte fest, dass es mich ganz schön aggressiv machte, früh morgens in so ein grelles und unnatürliches Licht zu glotzen und meine Laune dadurch definitiv nicht besser wurde. Mampfte fleißig teure Vitamin D-Präparate. Meldete mich widerwillig wieder beim Fitnessstudio an, wo ich manchmal auch einfach nur in die Sauna ging, ohne mich vorher auf irgendeinem blöden Crosstrainer und unter den Blicken tättowierter Muskelprotze und abgemagerter top gestylter Mädels zu langweilen, die unauffällig auf die Anzeige deines Kalorienverbrauchs schielten. Ging bei Wind und Wetter an der Elbe spazieren. Versuchte, so gut wie möglich vorzusorgen. Nicht, dass mir manches davon nicht gut tat. Aber trotzdem kam die Klatsche zuverlässig wieder. Es geht doch nichts über deutsche Pünktlichkeit.

Nach der ausführlichen Analyse der letzten Jahre, die ich mit meinen Therapeuten und Ärzten in der Klinik auf Grundlage all meiner Tagebücher aufstellen musste, und der darauf folgenden Bipolar II-Diagnose weiß ich heute, dass es sich dabei um den Waschmaschinenschleudergang handelte, der unweigerlich auf das Surfen der größten Wellen im vorangegangenen Frühjahr und Sommer folgen musste. Neujahrs-Line-Up. Take-Off im Frühling. Ein Sommer voller High Tides, Pointbreaks, Barrels und grüner Wellen.

Dann ohne Vorwarnung und Umwege per Schleudergang direkt in die Impact-Zone.

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