Pizzapanik.

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Eine Erzählung.

Sie saß ihm gegenüber, auf den Stufen vor dem Hintereingang des Restaurants, und rauchte die dritte Zigarette in den letzten zehn Minuten. Warum um Gottes Willen hörte sie nicht endlich auf zu heulen? Er blickte sich unauffällig um und hoffte inständig, dass nicht gerade jetzt jemand vorbeikommen würde. Wie unangenehm. Mit jeder Minute fühlte er sich unwohler und war sich nicht sicher, ob er wütend auf sie war oder Mitleid haben sollte. Er hatte sich ganz schön erschrocken, als sie mitten im Mittagsgeschäft die Pizzabretter, die sie gerade zu Tisch 4 hätte bringen sollen, einfach auf dem Tresen abstellte, und rausrannte. Der Laden war, wie immer um diese Zeit, rappelvoll gewesen und einige der Gäste hatten ihn irritiert angestarrt, allen voran die Familie an Tisch 4. Peinlich. Er konnte sich das eigentlich nicht leisten, da sie heute sowieso unterbesetzt waren, aber er musste sie zurückholen.

Und nun saßen sie da, im Restaurant war die Hölle los, da dürfte er sich nachher etwas anhören von den anderen Mitarbeitern. Als er raus kam, saß sie zusammengekauert auf den Stufen, zitterte am ganzen Körper, die Tränen liefen ihr in hässlichen schwarzen Wimperntuschebächen übers Gesicht und sie sagte, sie könnte kaum atmen. Eine Panikattacke, sagte sie. Panik? Attacke? Ob sie das schon mal gehabt hätte, fragte er sie. In letzter Zeit schon, antwortete sie leise. Dass sie das kannte, aber dass es gerade immer schlimmer wurde. Sie könnte nicht mehr schlafen, nichts mehr essen, sei nur noch am Weinen. Das mit dem Essen sah sogar er, der nicht gerade Spezialist für weibliche Gewichtsschwankungen war. Sie war immer weniger geworden in den letzten Wochen. Und essen hatte er sie schon lange nicht mehr gesehen. Sie hatten ja in ihrer 10-Stunden-Schicht auch keine Pause, so war das nun mal in der Gastro. Augen auf bei der Berufswahl. Anfangs hatte sie aber, wie alle anderen, immer kurz im Gang zwischen Gastraum und Küche zumindest ein paar Nudeln oder ein Stück Pizza verschlungen. Sie konnte nicht mehr, schluchzte sie. Er schaute sie verunsichert an. Sie schaffte es morgens nicht mehr, aufzustehen. Deswegen war sie in letzter Zeit auch so oft zu spät gekommen. Kapierte er nicht. Abgesehen davon, dass die Schicht um 11 begann und das für ihn nicht mehr wirklich morgens war. Wie konnte man morgens nicht aufstehen können? Außer natürlich, man war querschnittsgelähmt, hatte zwei gebrochene Beine oder den Kater seines Lebens. Dann vielleicht.

Langsam wurde er ungeduldig. Sie heulte immer noch. Wenn sie den Stress nicht abkonnte, wieso suchte sie sich nicht einen Bürojob? Gastro war kein Zuckerschlecken, das wusste doch eigentlich jeder, der das schon mal gemacht hatte. Er konnte hier keine labilen Heulsusen gebrauchen. Konnte sie sich nicht einfach zusammenreißen? War doch alles gut. Sie hatte eine Job, einen Macker, eine Wohnung, war gesund. Sie müsste sich krankschreiben lassen, sagte sie. Wieso das denn jetzt? Es ginge nicht mehr. Die Hauptsaison fing gerade an. Hätte sie nicht ein besseres Timing für ihr chronisches prämenstruelles Syndrom organisieren können? Frauen. Deswegen stellte er lieber Männer ein. Wie lange sie plante, krank zu sein, fragte er. Sie sah ihn aus verschmierten Augen an. Sie sah erbärmlich aus.

Er spürte kein Mitleid, sondern spielte in Gedanken schon die Dienstpläne für die kommenden Wochen durch, fragte sich, wie er das hinkriegen sollte und ärgerte sich schon jetzt darüber, dass er nach der Schicht heute wieder bis nachts in dem kleinen schäbigen Kabuff im Erdgeschoss sitzen und Timetabletetris spielen würde. Und das nur, weil sie sich nicht im Griff hatte. Die Tür wurde aufgestoßen und einer seiner Köche sah ihn mit ungläubigem Blick an: „Dein Ernst??! Der Laden ist bis auf den letzten Platz voll und du machst erst mal gemütlich Raucherpause?“ Recht hatte er. „Sorry, kleines Problem hier. Komme.“ Sie saß immer noch bewegungslos auf den Stufen, hatte aber wenigstens mit der Heulerei aufgehört. „Geh nach Hause“, sagte er. „Jeder hat mal ’nen miesen Tag. Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus, glaub mir.“ Sichtlich zufrieden mit der in seinen Augen durchaus Mut machenden Äußerung tätschelte er, ohne ihr noch einmal in die Augen zu sehen, unbeholfen ihre Schulter und eilte, erleichtert um das Ende der Situation, ins Restaurant.

Er hatte sie direkt gemocht, sie war zu Beginn eine seiner besten Servicekräfte gewesen. Schnell, freundlich, immer einen guten Spruch auf den Lippen. Jeder hatte sie gemocht. Leider war sie noch in der Probezeit gewesen. Nachdem sie zwei Wochen am Stück krank gewesen war, machte er ihre Kündigung fertig. Sie brauchten hier nun mal Leute, die funktionierten.

Er sah sie nie wieder.

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