„Einfach“ nur gut.

Sonntag morgen, 7:07 Uhr, Bahnhof Altona
Es ist 7:07 Uhr, als der Zug in Altona den Bahnhof verlässt und meine Freundin wieder zurück in Richtung Heimat bringt. Es waren wunderschöne Tage, nur leider, wie immer mit geliebten Menschen, viel zu kurz. Aber das nächste Wiedersehen ist schon geplant und vorfreudige Zeit ist alles andere als verschwendete Zeit! Eigentlich war mein ursprünglicher Plan nach dem Aufwachen zu dieser unchristlichen Zeit, noch dazu an einem Sonntag, gewesen, sofort wieder unter die Daunendecken in meinem kuscheligen Bett zu schlüpfen und ausgiebig auszuschlafen. Aber als ich aus dem Bahnhof ins Freie hinaustrete, weiß ich: Das wird nicht passieren.
Es ist ein Morgen, wie ich ihn lange nicht erlebt habe. Was vermutlich nicht zuletzt daran liegt, dass ich ein nicht wirklich passionierter Frühaufsteher bin. Um es vorsichtig auszudrücken. Würde es nicht fürchterlich kitschig klingen, hätte ich behauptet, dieser Morgen wäre von einer fast magischen Schönheit, die Luft so rein und klar und frisch, dass man sie gar nicht schnell genug einatmen könnte, das Licht mehr als filmreif. Einfach nur wunderschön. Also nix mit wieder ins Bett, sleep is for the week, der frühe Vogel und so, sondern nochmal kurz nach Hause, ne Stulle schmieren, Kaffee kochen und mitnehmen. Ich hab spontan Lust auf Fischmarkt und stiefele los.
Sonnenpflaster
Die Sonne bahnt sich ihren Weg durch die halbhohen Häuserschluchten meines Viertels und bringt die Pflastersteine auf den kleinen Seitenstraßen zum Leuchten. Da es die letzten Tage trotz des zumindest laut Kalendermonats noch herrschenden Winters überdurchschnittlich warm war, stehen Tier-und Pflanzenwelt bereits in den Startlöchern und die Vögel zwitschern um die Wette. Jedes Jahr bin ich wie auf’s Neue völlig fasziniert davon, wie dieser unvergleichliche Frühlingssound ein Heer von Schmetterlingen in meinem Bauch freilässt, das keine noch so große Verliebtheit in dieser Form hinkriegen würde. Die Vögel zwitschern fröhlich weiter und meine kleinen Schmetterlinge flattern zu ihren Liedern um die Wette. Großartiges Gefühl. Als ich über die Kreuzung gehe, schiebt sich die Sonne aus dem Schatten des Gebäudes, das mal meine Stammkneipe war, und scheint mir unmittelbar und grell ins Gesicht. Deswegen sehe ich das Mädchen nicht kommen, bevor sie direkt vor mir steht. Besser gesagt, vor mir schwankt. Amüsiert verhelfe ich ihr mit meinem Feuerzeug zur wahrscheinlich letzten Zigarette dieser Nacht und biege ab Richtung Hafen.
Ich würde jedem Touristen, der in die Hansestadt kommt, empfehlen, den Hamburger Fischmarkt nicht nur einmal, sondern mindestens zweimal zu besuchen. Und zwar einmal im Anschluss an eine durchzechte Nacht und alles andere als nüchtern und das andere mal frisch geduscht, gerade aufgestanden und mit mindestens einem guten Kaffee in der Hand. Es sind Welten, die bei diesem Spektakel aufeinanderprallen, jede mit ihrem ganz eigenen Reiz.
Tor zu meiner Welt
Kurz bevor ich mich ins Getümmel stürze, die Marktschreier sind schon von Weitem zu hören, setze ich mich mit meinem Kaffee ein Stück vor dem eigentlichen Fischmarkt auf die Kaimauer und rauche eine Zigarette. Vor mir die Krähne, deren Stahl in der aufgehenden Sonne blitzt und die Reflektion der Lichtstrahlen auf der Elbe, die so sehr blenden, dass ich die Augen zukneifen muss. Industrieromantik, die ihresgleichen sucht. Wie man darauf nicht stehen kann, ist mir ein Rätsel. Eine Barkasse schippert in gemächlichem Tempo vorbei und schlägt unscheinbare kleine Wellen, die mit einem sanften „Pltsch“ gegen die Steinmauer unter mir schwappen. Auf meiner Linken glänzt erhaben und stolz die Elbphilharmonie in einiger Entfernung, zu meiner Rechten reiht sich majestätisch Kran an Kran. Richtung Horizont nähert sich ein großer, mit hunderten bunten Containern beladener Frachter, der eine lange Reise hinter sich haben wird. Oder vielleicht auch vor sich und er fährt Richtung Meer. Er ist zu weit weg, als das ich das erkennen könnte. Das Tor zur Welt. Hamburg war auch für mich ein Tor. Ein Tor zu meiner eigenen kleinen Welt. Und allem, was dazu gehört.
Ich habe die Augen immer noch geschlossen, spüre, wie meine Haut langsam von der Sonne aufgewärmt wird, schlürfe meinen lauwarmen Kaffee, ziehe ab und zu an meiner Zigarette, und zwar heute mal ohne jegliches schlechte Gewissen, lausche dem Plätschern der Wellen und Aale-Dieters unverwechselbarem Marktgeschrei in der Ferne. Und bin einfach nur glücklich.
Einfach? Nur? Glücklich?
Wohlwissend, dass der Zustand von „einfach nur glücklich“ nicht selbstverständlich ist. Ich war am Abend zuvor eingeschlafen und hatte mich einfach auf den nächsten Tag gefreut. Aber nicht so sehr, dass ich vor lauter Euphorie und Aufregung auf den nächsten Morgen nicht hatte einschlafen können und ein vermeintlich genialer Gedanke den nächsten in meinem Kopf gejagt hatte. Genau so wenig hatte ich am Abend zuvor, gefangen in einem negativen Gedankenstrudel, in meinem Bett gelegen und mich gefragt. wie ich den nächsten Tag überstehen sollte. Ich war am Morgen, wenn auch wegen der Uhrzeit etwas müde, aufgestanden, hatte meiner Freundin und mir Kaffee gekocht und die Fenster meines Zimmers weit aufgerissen, um die frische Morgenluft hereinzulassen. Ich hatte nicht wie gelähmt in meinem Bett gelegen, unfähig, mich zu bewegen geschweige denn aufzustehen und daraufhin den ganzen Tag im Bett gebracht, nichts gegessen, nicht geduscht, mein Handy ausgemacht, meine Kleider auf den überdimensionalen und stetig wachsenden Klamottenberg geschmissen und den Abwasch Abwasch sein lassen. Genau so wenig war ich wie ein junges Reh auf Ectasy und mit Herzrasen ohne Wecker um 7 aus dem Bett gehüpft und hatte bis 12 Uhr mittags schon meine gesamte Wohnung geputzt und gesaugt, die komplette Wäsche gewaschen, 10 Texte für die Uni geschrieben, endlich mal sämtliche in der letzten Zeit vernachlässigten entfernten Bekannten per WhatsApp kontaktiert, vier Kaffee getrunken, mindestens genau so viele Zigaretten dazu geraucht, endlich mal meinen Kleiderschrank ausgemistet, diverse aussortierte Dinge fotografiert und auf Kleiderkreisel hochgeladen, nebenher mit meiner Schwester telefoniert und hier und da mal ein bisschen nach Jobs im Kreativbereich gegoogelt.
Ich bin einfach nur ins Bett gegangen, habe einfach nur gut geschlafen, bin einfach nur aufgestanden und jetzt sitze ich einfach nur mit einem Kaffee in der Sonne am Fischmarkt. So einfach ist das. Nicht.
Nicht zu schnell. Aber schnell genug.
Umso mehr genieße und wertschätze ich das Gefühl, gerade ganz bei mir zu sein. Eine flauschig-weiche Zufriedenheit, die von mir Besitz ergreift und eine stoische Ruhe in mir erzeugt, die so schnell nichts umhauen kann. Mein Herz schlägt regelmäßig und nicht zu schnell, aber schnell genug in meiner Brust, mein Atem geht gleichmäßig und trägt mich. Ich empfinde tiefe Dankbarkeit. Bescheidene Ehrfurcht vor diesem kleinen, sicheren Ort der Geborgenheit in mir. Keine Extreme. Weder in die eine noch in die andere Richtung. Aber auch keine gefühlslose Nulllinie. Einfach nur gut.
Hey Lisa,
da sitze ich diesen Montag morgen mit Kaffee am heimischen Schreibtisch und zack- weht mir Fisch- und Meeresluft um die Nase. Ich bin in Hamburg, am Hafen und genieße den friedlichen Morgen und bin ganz bei mir. Warum? Ich habe deinen Text gelesen. Einfach nur gut:)
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Sich in den Moment versinken lassen können, ist eine tiefe Sehnsucht. Du schilderst es so ruhig und nimmst mich förmlich mit auf diesem Weg und in diesen Morgen. So einfach. Danke! Comediante23
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Hallo Lisa, ich hatte beim Lesen das Gefühl, Dich zu begleiten: Über das glitzernde Kopfsteinpflaster durch Altona und runter zum Fischmarkt – das klingt wirklich schön und es freut mich, dass Du Dein „einfach so“-Glücksgefühl genießen konntest! Bald fängt schon die Sommerzeit an, ich wünsche Dir (und uns Rest-Hamburgern!) ganz viele Sonnentage!! R
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Liebe Lisa, ich kenne kaum jemand, der so achtsam und reflektiert mit sich umgeht. Und als ob das nicht schon genug der Faszination wäre, schaffst du es wieder, mich mit deinen Worten ganz behutsam einzuwickeln in deine Empfindungen bis wir eins werden in der frischen Morgenstimmung, im Leben, das am Hafen so vor sich hin plätschert und im Alltag, der einfach nur da ist. Mehr, möchte ich sagen, braucht niemand.
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Liebe shubia,
das freut mich sehr zu lesen! Dann konnte ich dir ja ein bisschen hanseatisches Gefühl vermitteln und wir sitzen schon zu zweit auf der Kaimauer 🙂
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Uns in den Moment versinken lassen sollten wir viel öfter tun, aber nicht immer geht es. Umso wertvoller sind die Momente, in denen es plötzlich passiert 🙂 Danke für deine Worte, liebe comediante23!
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Lieber larsvegas77,
deine Augen haben meinen Text bestimmt auch noch einmal anders gelesen, da auch du diese wundervolle Stadt deine Heimat nennen darfst 🙂 Egal wie viel Regen manchmal fällt, wir haben einfach Glück, hier sein zu dürfen finde ich. Das Perlchen. Ich habe mich direkt mal von deinem grenzenlosen Optimismus mitreißen lassen, deiner Anfang-März-Behauptung, die Sommerzeit würde bald anfangen! Das finde ich großartig und ich glaube es wirklich, auch wenn man das heute bei dem Blick aus dem Fenster nicht meinen sollte!
Aber für mich beginnt der Sommer tatsächlich nächste Woche, und zwar mit einem dreiwöchigen Roadtrip durch Portugal! Juhu!!
Ganz liebe Grüße
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Liebe fraupunkte,
deine Worte berühren mich jedes Mal auf’s Neue und sind wie Balsam für die Seele. Vielen vielen Dank dafür! Vor allem gerade dieser Kommentar gibt mir sehr viel, da ich genau das „achtsam und reflektiert“ mit sich umgehen, sehr sehr lange geübt und mir hart erarbeitet habe. Wobei der achtsame Part der bedeutend härtere Teil war. Seine Bedürfnisse und Grenzen wahrzunehmen, nicht ständig die Bedürfnisse anderer Menschen, vor allem nicht Menschen, die einem nicht gut tun und selbst nur an ihrem eigenen Wohl interessiert sind, über die eigenen stellen und sich selbst dabei verlieren. Liebevoll und nachsichtig mit sich sein, nicht so streng und vernichten. So, wie man sich auch gegenüber einer besten Freundin verhalten würde. Einfach gut für sich zu sorgen ist gar nicht mal so einfach. Aber ich habe viel geübt, Fort- und Rückschritte gemacht und bin mittlerweile auf dem für mich richtigen Weg angekommen, den ich nicht mehr verlassen werde und von dem mich auch niemand anderes abbringen wird. Das ist eine schöne und sehr tröstende, beruhigende Erkenntnis. Jetzt habe ich schon wieder so weit ausgeholt, dabei wollte ich gar nicht so viel erzählen, sondern dir „einfach“ nur erklären, weshalb deine Aussage so viel mit mir gemacht hat.
Und dann kam da noch eine Brise Hamburger Morgenbrise rüber, mehr brauch ich nicht! 🙂
Ganz liebe Grüße!
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