Ist Heimat wirklich dort, wo dein Herz ist?
Wer kennt ihn nicht, diesen Spruch: „Home is where your heart is“ – Heimat ist dort, wo dein Herz ist.

Ob als hübscher Druck auf der Fußmatte, unser Lieblingskaffeetasse, in jedem Souvenirladen aufzutreibender Postkarte oder diversen Bildern zum Einrahmen – die Auswahl ist groß.
Bevor wir jedoch wie die Lemminge unsere zumindest lokale Heimat, nämlich unsere Schlaf- und Wohnzimmer mit diesem schlauen Spruch tapezieren, sollten wir ihn doch eigentlich erst einmal richtig verstanden haben, oder nicht?
Beim Lesen dieses Spruchs drängt sich mir zu aller erst die Frage auf, wo denn eigentlich überhaupt unser Herz sein soll, damit dieser Ort sich „Heimat“ schimpfen darf. Was uns wiederum zur nächsten Frage führt: Muss es zwangsläufig ein Ort sein, an den unser Heimatgefühl gebunden ist? Dieser so leicht daher gesagte und direkt für bare Münze genommene Spruch lässt mehr Raum für Interpretationen, als man auf den ersten Blick meinen könnte.
Nehmen wir uns also des ersten Szenarios an, Heimat sei verbunden mit einem Ort. Einer bestimmten Stadt vielleicht. Einem Land. Oder einem Kontinent.
Wir wollten schon unser Leben lang an diesem bestimmten Ort wohnen und dürfen ihn nun unsere Wahlheimat nennen. Es fühlt sich richtig an, dort zu sein. Wir fühlen uns heimisch. Verbunden. Unser Herz hängt an diesem Ort.
Erstmal schön und gut.
Was würde allerdings passieren, wenn es diesen Ort, unsere Heimat, plötzlich nicht mehr gäbe? Gründe, warum es dazu kommen könnte, findet man genug, wenn man sich in unserer Welt einmal umschaut. Auch wenn wir uns größtenteils noch in der Illusion von Sicherheit wiegen, all das wäre weit weg und passiere nur anderswo.
Das jedoch steht auf einem anderen Blatt geschrieben.
Würde aber genau dieser Fall eintreten und der Ort, den wir Heimat nennen, wäre von einem auf den anderen Tag verschwunden – wären wir dann zu lebenslanger Heimatlosigkeit verdammt? Dürften oder könnten wir uns einfach, so mir nichts, dir nichts, eine neue Heimat zulegen? So wie sich Hundeliebhaber einen neuen Welpen holen, um über den Verlust ihres verstorbenen Haustiers hinwegzukommen? So wie wir uns den nächsten Partner suchen, weil es mit dem letzten dann irgendwie doch nicht so gut gepasst hat, wie wir eigentlich dachten, er oder sie nicht so funktioniert hat, wie wir ihn oder sie, unfähig, unser Ego zu überwinden, lieber gehabt hätten? Mitarbeiter, die gekündigt werden, frei nach dem Motto, jeder sei ersetzbar? Gehört auch Heimat zu einem der jederzeit beliebig austauschbaren Güter unserer Gesellschaft?
Nicht selten jedoch machen wir die Erfahrung, dass der noch so langweilige und weder architektonisch noch landschaftlich reich beschenkte Ort einem perfekt erscheinen mag. Was in den meisten Fällen keineswegs dem eigenen mangelnden Sinn für Ästhetik, sondern vielmehr den Menschen, die einen an eben jenem Ort umgeben, zuzuschreiben ist. Denn genau die machen diesen Ort zu etwas Besonderem, setzten uns wie frisch Verliebten eine rosarote Brille auf, durch die die Welt einfach schöner wird, ganz egal, wo wir uns gerade befinden. Vieles steht und fällt mit den Menschen, die uns am nächsten sind und damit auch, wie wohl wir uns fühlen, wie wir angenommen, akzeptiert und wertgeschätzt werden.
Spinnen wir unseren unheimlichen Worst-Case-Faden weiter, stoßen wir auch hier relativ bald auf die Vergänglichkeit zwischenmenschlicher Beziehungen, seien sie freundschaftlicher, intimer oder familiärer Natur. Freund- oder Partnerschaften können in die Brüche gehen, Familien sich auf immer und ewig zerrütten. Menschen ziehen um, können krank werden oder sterben. Sollten wir einmal an einen Punkt in unserem Leben gelangen, an dem wir wirklich alleine sind, nur auf uns gestellt, einsam – verlieren wir dann jeglichen Halt, weil unser Gefühl von Heimat einzig und allein an die Menschen um uns gebunden war?
Auch das ist alles andere als eine beruhigende Vorstellung.
Wie können wir uns selbst ein verlässliches und konstantes Heimatgefühl erschaffen, ohne von äußeren Umständen oder Instanzen abhängig zu sein? Ist das überhaupt möglich?
Stellen wir uns einmal vor, unser Leben gleiche einer Reise mit einem Schiff auf offener See.
Wir steuern verschiedene Häfen an, es verlassen Menschen das Schiff, während andere, neue Menschen an Board kommen. An manchen Häfen gehen wir an Land, verbringen eine gewisse Zeit dort, manchmal kürzer, manchmal länger, bevor wir wieder in See stechen.
Manche Umstände oder Komponenten können wir frei wählen und selbst beeinflussen, wie beispielsweise die Ausrüstung, die wir im Gepäck haben.
Welche Menschen wir an Board lassen – blinde Passagiere, die wir zwar nicht willkommen heißen wollen, mit denen wir aber trotzdem umgehen müssen, ausgenommen.
Welche Häfen wir gerne ansteuern wollen.
Wieder anderes liegt außerhalb unserer Macht. Wir können nicht immer verhindern, dass Menschen, die wir lieben, das Schiff verlassen oder wir aus unterschiedlichen Gründen nicht so lange an einem Ort bleiben können, wir wir es uns vorgestellt haben, ihn vielleicht auch gar nicht erst erreichen können.
Auch Wind und Wetter obliegen nicht unserer Kontrolle. Die See kann rau und stürmisch sein und unser Schiff ordentlich zum Wackeln, im schlimmsten Fall gar zum Kentern bringen. Oder uns aber ruhige und sichere Fahrt gewähren, einen klaren Blick bis zum Horizont und die schönsten Sonnenauf- wie Untergänge bescheren.
Es gibt verschiedene Dinge, die uns auf unserer Reise begleiten und unterstützen können.
Unser ganz persönliches Logbuch etwa. Die Fülle aller Erfahrungen und Erlebnisse, die wir im Laufe unserer Reise machen.
Ein gemäß unseres individuellen Wertesystems geeichter Kompass, der uns die Richtung weisen kann. Sind wir uns im Klaren darüber, wie wir die verschiedenen Himmelsrichtungen für uns definieren, so zeigt uns die Kompassnadel, wie wir leben wollen. Wo die Reise hingehen soll.
Immer wieder vernehmen wir außerdem Lichtsignale entlang der Küste, die uns Orientierung geben. Selbst bei größtem Sturm und Unwetter. Menschen, die in unser Leben treten und uns ein Stück des Weges begleiten. Uns Halt und Hoffnung geben können, wenn wir sie selbst verloren haben.
Letzten Endes können wir uns jedoch der Wahrheit nicht verschließen und sollten der Tatsache ins Auge blicken: Als Kapitän unseres Schiffes auf der Reise, die wir Leben nennen, besitzen allein wir selbst die Freiheit, die Macht und auch die Pflicht, zu entscheiden, wo, wie und wann wir vor Anker gehen.
Selbst im größten Sturm und auf offener See, ohne jeglichen Leuchtturm in Sicht, weder Kompass noch Logbuch zur Hand, haben wir doch immer die Möglichkeit, den Anker zu werfen, der im Bauch unseres Schiffes versteckt ist.
Und diesen Anker tragen wir immer in uns selbst. Selbst wenn wir meinen, ihn verloren zu haben. Er ist immer da. Ganz egal, wo und mit wem wir uns gerade befinden.
Sollte unser hübscher Allerweltsspruch dann nicht eigentlich lauten:
„Heimat ist immer in dir selbst. Ganz egal, mit wem oder wo du gerade bist.“
Oder, um unserer anglisierten Welt und eventuellen Werbezwecken gerecht zu werden: „Home is always where you are. No matter with whom or where you are.“
Tragen wir das Gefühl von Heimat in uns selbst, so widrig die äußeren Umstände auch sein mögen, sind wir mit uns im Reinen, fühlen uns wohl in unserem Körper und Geist, irgendwie zugehörig und gewollt von, verbunden mit der Welt, in der wir leben, haben wir ein Urvertrauen, dass alles gut werden wird, jederzeit und überall – dann kann uns das niemand nehmen.
Ob uns eine solche Neudefinition dieses altbekannten Credos nun ängstigen oder beruhigen mag, uns zum Umdenken anregt oder uns die Augen vor dem Unangenehmen verschließen lässt – das bleibt jedem selbst überlassen.
Wie viele oder wenige Wohnzimmerwände dieser transformierte Satz wohl noch schmücken dürfte, führt er uns letzten Endes doch so erbarmungslos vor Augen, dass, was auch immer passieren mag, zum Schluss einzig und allein immer nur wir selbst die Verantwortung für unser Heimatempfinden tragen. Ganz gleich, wo und mit wem auch immer.
Liebe Lisa, ich freue mich sehr, dass es nun doch geklappt hat mit deinem Blog! Deine Fragestellung geht wirklich von einem sehr einfachen Satz aus und dürfte von verschiedenen Menschen und Heimatgefühlen unterschiedlich beantwortet werden. Die Verortung der Heimat hängt für mich an meiner Erinnerung und auch an meiner Sprache. Ich trage das alles in mir, quasi im Herzen, wenn wir dieses Organ mal als Schatzkästlein betrachten. Und als solches trifft der Spruch mit seiner Verortung bei mir zu.
Ich finde es mutig und spannend, dass du über deine Krankheit schreiben möchtest und freue mich über weitere Beiträge.
Bis zum nächsten Wochenende, liebe Grüße, Brigitte
LikeGefällt 1 Person
Liebe Brigitte,
zwar etwas verspätet, aber nicht weniger herzlich mein Dankeschön an deinen Kommentar, habe mich sehr darüber gefreut, vor allem natürlich auch, weil es der Allererste war! 🙂
Du hast Recht, das Spannendste an dieser Frage ist, dass die Antworten wahrscheinlich unterschiedlicher nicht ausfallen können und für jeden Menschen etwas Anderes bedeuten, ganz individuell.
Deine Aussage, dass das eigene Heimatgefühl auch immer mit Erinnerungen und Sprache zusammenhängt, kann ich nur befürworten.
Unser Herz als Schatzkästlein, was für eine schöne Vorstellung!
Liebe Grüße
Lisa
LikeLike